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Wallentin, Jan

Wallentin, Jan

Titel: Wallentin, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strindbergs Stern
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ersten Mal von innen abschließen können.
    Anfänglich
hatte sie den Schlüssel als eine Art Andeutung interpretiert, dass Vater sie
in ein anderes, freies Leben entlassen würde. Doch alles war beim Alten
geblieben. Von der Dachwohnung aus war es nur eine Viertelstunde Fußweg bis zu
seinem Direktorenzimmer, und dort war die Arbeit im Schatten des nördlichen
Turmes der Burg weitergegangen wie eh und je.
     
    In eine
Decke gehüllt probierte sie in ihrer Küchenecke einen ersten Löffel Honig aus
einem Glas, das sie aufgrund ihrer überstürzten Abreise nach Schweden offenbar
auf dem Tisch hatte stehenlassen. Die Bewegung ihres Armes zum Mund war das
einzige Lebenszeichen in der trostlosen Zweizimmerwohnung. Sie war davon
ausgegangen, dass es sich nicht lohnen würde, sie einzurichten.
    Hinter dem
Türrahmen der Küchenecke konnte sie im Dunkeln ihr Schlafzimmer erkennen. Das
Bett, das sie nicht mehr geschafft hatte zu machen, die Kommode mit dem
schmalen Spiegel und dem Portrait der Heiligen Madonna darüber. Ansonsten:
nichts. Im anderen Zimmer hatte sie sich mehr Mühe gegeben, dort hatte sie den
Boxsack an einer Kette aufgehängt und ihre Trainingsgeräte neben dem
Waffenschrank festgeschraubt.
     
    Elena
leckte den Löffel mit der Zunge ab. Ein goldgelber Geschmack nach Zucker und
Sommer, miele di acacia.
    Nach der
langen Fahrt zurück in den Nebel des Teutoburger Waldes an der Grenze zu den
stinkenden Industriegebieten im Tal der Ruhr hatte sie sich noch nicht
ausschlafen können. Zwölf Stunden lang hatte sie den Asphalt unter sich
vorbeirauschen sehen, während sie das Kreuz zwischen ihr Herz und den
schneeweißen Tank des Motorrades gepresst hielt.
    Als sie
noch einen Löffel Honig nahm, dachte sie, dass ihr die Schmerzen in den
Oberschenkeln nach der langen Fahrt in gewisser Weise vielleicht guttaten. Es
war inzwischen selten geworden, dass physische Schmerzen ihr etwas ausmachten;
das Training mit den finster dreinblickenden Männern der Sicherheit hatte zumindest eines bewirkt: dass nichts mehr sie wirklich zu
rühren vermochte.
     
    Auf dem
Weg von Dänemark hinunter nach Westfalen hatte sie noch einmal im
Direktorenzimmer angerufen und wurde mit Fragen zu Erik Hall und jemandem, den
sie Titelman nannten, konfrontiert. Elena hatte versucht, sich jedes Wort, das
im Sommerhaus in Falun gesprochen worden war, zu merken, doch jetzt am
Küchentisch ging sie alles noch einmal durch, um festzustellen, ob sie nicht
doch etwas Wichtiges vergessen hatte.
    Stutzte
bereits bei dem Gedanken an den ersten Augenblick des Treffens mit dem Taucher,
als sie behauptet hatte, sie sei eine Journalistin von >La Rivista Italiana
dei Misteri e dell'Occulto<. Nicht einmal in dem Augenblick hatte sie ihre
Sehnsucht in Bezug auf das, was ihr entgangen war, ausblenden können. Sie hatte
den Namen eines italienischen New-Age-Magazins nur deswegen gewählt, weil sie
vor langer Zeit einmal eine kurze Notiz über ihre, wie sie es nannten,
»astralen Fähigkeiten« publiziert hatten. Aber konnte sie damals denn überhaupt
schon lesen? Wie alle anderen Erinnerungen aus ihren ersten Lebensjahren hatte
sich auch diese inzwischen mit ihren Träumen vermischt.
     
    Als Elena
schließlich genug von dem süßen Zeug hatte, verschloss sie das Honigglas und
ließ die Decke von ihrem Körper gleiten. Sie stand auf, ging am Fenster mit den
zugezogenen Gardinen vorbei und stellte sich vor den Spiegel. Folgte mit dem
Blick den jungenhaften Linien ihrer Wangenknochen bis hinunter zum ungeschminkten
Mund. Zerzauste ihr kurzes Haar, und obwohl sie unmittelbar versuchte, den
Gedanken zu verwerfen, wusste sie genau, wem sie ähnelte.
     
    Miele di
acacia, der blumige Geschmack des Honigs nach Vanille.
     
    Sie
presste ihre Stirn gegen den Spiegel, um den Gedanken an die einsame Frau zu
verdrängen, die an einem Tag vor langer Zeit Vaters Bankgebäude hatte
verlassen müssen, verleugnet von ihrer eigenen sechsjährigen Tochter. Hinter
dem Honig tauchte jetzt der wohlbekannte Geschmack nach Ricotta auf; Honig und
Ricotta, die mehligen Kekse, die sie und ihre Schwestern immer mit zum Strand
genommen hatten. Der Geschmack nach Zitronensaft, die Hitze in der Bucht von
Neapel und all die Gerüche. Der Gestank der Müllberge, der durch den Spalt der
Balkontür des heruntergekommenen Wohnkomplexes drang. Sie erinnerte sich
daran, wie sie versucht hatte, den Türgriff zu erreichen, um sie zu schließen,
wenn der Gestank unerträglich war. Doch für Kinderhände

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