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Wallentin, Jan

Wallentin, Jan

Titel: Wallentin, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strindbergs Stern
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Zwischenzeit vergangen, und der Winter war von einem weiteren Winter
abgelöst worden. Bis an einem frühen Dezembermorgen eine Frau aufgetaucht war,
als wäre sie vom Himmel herunter ins Bankgebäude geschwebt, um sie nach Hause
zu holen.
    Obwohl sie
sich schämte, hatte Elena immer das Gefühl, nach der langen Zeit genau die
richtige Frage gestellt zu haben. Denn welches Recht besaß diese Frau zu
glauben, dass eine Sechsjährige nach all dem, was geschehen war, ihre eigene
Mutter noch wiedererkennen wollte?
    Nach
diesem Morgen war die Frau nie wiedergekommen. Erst als Teenager, als ihre
Fähigkeiten langsam abgeklungen waren, hatte Elena durch Zufall erfahren, was
eigentlich passiert war.
    Dass ihre
Eltern es an jenem Sommertag eilig gehabt hatten, dass ihre Geschwister nicht
angeschnallt und die Serpentinen an der Amalfiküste nach ausgiebigen
Regenfällen rutschig waren. Dass ihnen in einer Kurve ein Pick-up mit
überhöhter Geschwindigkeit entgegenkam, und sich die Bremsbeläge des Citroens
in ziemlich miserablem Zustand befanden.
    Alles in
allem war es eine Verkettung unglücklicher Zufälle, hatte man ihr erklärt. Der
Todessturz hinunter ins Meer war nur einer der Fakten gewesen, für die sich
keiner verantwortlich fühlte. Und somit war ihre Aussicht darauf, Antworten zu
erhalten, ebenfalls zunichtegemacht. Doch was für einen Nutzen hatte schon ein
adoptiertes Kind davon, nach Antworten zu suchen?
     
    Elena
schob sich das Kissen in den Rücken und schaute in Richtung des einzigen
Fensters der Dachwohnung, doch das Bild der verzweifelten Frau wollte noch
immer nicht verschwinden. Stattdessen versuchte sie in ihrem Inneren, die
Sechsjährige auf dem Treppenabsatz im Bankgebäude zu Vater hochschauen zu
lassen. Die Freude in seinem Blick wahrzunehmen, die in den ersten Jahren immer
sichtbar war. Sie an die gemeinsame Arbeit denken zu lassen mit dem funkelnden
Staub in den Glaskapseln mit Bleiverschluss sowie an die geometrischen Muster,
die damals so intensiv geleuchtet hatten.
    Erst
später, als sie viel älter war, und ihre Sinneswahrnehmungen schon lange
abgestumpft waren, hatte Elena begriffen, was Vater und die Stiftung mittels
ihrer Hilfe hatten erkennen können. Aber nicht einmal mit ihrer Unterstützung
waren sie sonderlich viel weitergekommen. Das Material, das sich in den mit
Blei eingefassten Glaskapseln befand und ihnen als Ausgangspunkt diente,
bestand lediglich aus vereinzelten Partikeln, die aus einer Quelle stammten,
die seit langem versiegt war.
    Elena
spürte, wie die Sechsjährige langsam ihren Blick auf den unteren Treppenabsatz
und das Gesicht ihrer Mutter richtete. Sie unternahm alles, um diese
Erinnerungssequenz festzuhalten. Wollte so lange wie möglich in der anhaltenden
Stille verweilen, bevor die Frage ausgesprochen wurde: »Wer ist
das, Vater?«
    Innerhalb
des hinausgezögerten Augenblicks konnte Elena die Fenster im großen Bankgebäude
zählen und sehen, wie das fahle Winterlicht auf die geschliffenen grauen
Steinplatten fiel. Sie sah die Säume oben an der Schulterpartie des Mantels
ihrer Mutter, ihre weit geöffneten einladenden Arme und ihr angespanntes Lächeln.
Dann bewegten sich die Bilder weiter.
    Und
dennoch war dieses Mal etwas anders als sonst, denn jetzt begann es zu
knistern, und die Tonspur ihrer Erinnerungen veränderte sich. Die Frage des
Kindes verschwand in einem entfernten Stimmengewirr, es waren dieselben
Stimmen, die sie während der langen Motorradfahrt von Falun nach Wewelsburg
gehört hatte.
     
    Elena warf
die Decke zur Seite und lief über den Boden in Richtung Küchenecke. Denn sie
kannte nur ein Mittel, das den nicht abzuschüttelnden Traum zum Erlöschen und
alles Belastende zum Verstummen und zum Stillstand bringen würde.
    Sie zog
die oberste Schublade heraus und drehte die Gasflamme am Herd auf. Dann hielt
sie die Messerspitze in die brennende Flamme und erhitzte das Metall, bis es
glühend heiß wurde. Entfernte die Bandage von ihrem kreideweißen Oberarm und
entblößte eine Reihe roter Brandmale. Es zischte, als sie die Schneide gegen
die nackte Haut presste.
    Als sie
den Schmerz empfand, erschien es ihr, als drehe jemand die Lautstärke der
Stimmen noch weiter auf, und Elena spürte ein heftiges Vibrieren, das von einem
Punkt direkt hinter ihrer Stirn ausging. Dann hörte sie ein Geräusch, das klang,
als ließe man ein Tonband rückwärts laufen, und sie vernahm eine weiche Stimme,
die sie nur allzu gut kannte, und die folgende Worte

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