Wallentin, Jan
zwirbelte durch die Spinnenfinger, während Vater die Inschrift vor
sich hin murmelte.
»Ich rufe
dich an, göttlicher Vollstrecker, Angebeteter ...«
»Spender
des Reichtums«, ergänzte sie.
Sie sah in
das Auge mit dem grauen Star, während das andere einen spöttischen Blick auf
sie hinunterwarf.
»Das
bleibt abzuwarten, oder?«, entgegnete er. »Aus Stockholm haben wir noch nichts
gehört.«
»Titelman
...«, begann Elena.
»Wir
hätten die Norweger zwingen sollen, es noch sicherer zu verwahren, das hätten
wir tun sollen«, unterbrach Vater sie. »Neunzig Jahre hat es uns gekostet.
Neunzig Jahre oder noch viel mehr, wenn das hier wirklich das Einzige ist, was
sich in diesem Bergwerk da unten befand. Doch wenn dem Sohn so viel daran lag,
dass er es bis zu seinem Tod bei sich getragen hat, kann er den Stern wohl kaum
ins Meer geworfen haben.«
»Hall hat
gesagt ...«
»Ja,
genauso war es!«, bestätigte Vater. »Erik Hall hat etwas ge sagt. Und zwar
darüber, dass er noch mehr gefunden hat. Wir sollten die schwedische Polizei
bitten, noch einmal nachzufragen, oder? Nach weiteren Details vielleicht, ohne
den Umweg über diesen Titelman machen zu müssen.« Elena schaute zu Boden.
»Die
Schweden haben Halls Leiche in der Pathologie deponiert, wie ich gehört habe;
vielleicht hast du ja Lust, noch einmal zurückzufahren und eine Vernehmung
durchzuführen. Wenn es dir gelingt, deine übersinnlichen Fähigkeiten zum Leben
zu erwecken, gelingt es dir ja vielleicht auch, noch etwas mehr aus ihm herauszubekommen.«
Elena
presste die Lippen aufeinander und schwieg. In der Stille des Raums erahnte sie
immer noch das Geräusch ihrer nächtlichen inneren Stimmen, doch sie waren zu
schwach, um sie Vater gegenüber zu erwähnen.
»Wir haben
in einer Art Starre gelebt, Elena.«
Dann
betätigte Vater den Hebel, und der Rollstuhl beförderte ihn zurück in die
sitzende Position.
»Wir haben
in einer Art Starre gelebt, und der Vorsprung ist bald dahin. Die letzten Jahre
haben wir von geborgter Zeit gelebt. Du musst verstehen ...«
Von der
Tür des Direktorenzimmers her war ein lautes Klopfen zu hören. Vater
verstummte. Dann wurde der Türgriff heruntergedrückt, und der Assistent kam
herein.
»Ein Anruf
aus Schweden«, teilte der Assistent mit.
»Ja, und?«
Elena sah,
wie sich der Assistent mit den rötlichen Sommersprossen wand. Dann fasste er
endlich Mut: »Es ist etwas passiert.«
Die
U-Bahnstation
Eva Strand
versuchte in den alles vergessen lassenden Schlaf zurückzusinken, doch
schließlich musste sie einsehen, dass die Schmerzen es nicht zuließen. Die
Augen noch immer geschlossen, wollte sie das Bein zu sich heranziehen, um das
Ausmaß der Verletzung auszumachen, doch es war, als würden ihre Muskeln nicht
gehorchen.
Sie
ergriff mit beiden Händen ihren linken Oberschenkel und schaffte es in kleinen
Bewegungen, das Knie so weit anzuwinkeln, dass sie ihre Wade befühlen konnte.
Ihre Fingerspitzen ertasteten eine Art Gaze, eine Bandage, die so fest
gewickelt war, dass sie nahezu jegliche Blutzirkulation unterband. Als sie
vorsichtig über die ungefähr zehn Zentimeter lange Wunde strich, konnte sie die
Konturen der kleinen Tapes spüren, die jemand dort angebracht haben musste, um
die Schnittflächen zusammenzuhalten.
Dann
kehrte die Erinnerung langsam zurück. Titelman, der auf die Granitterrasse
gezerrt wurde, und der dünnhaarige Polizist, der nur ungefähr zehn Meter
entfernt mit dem Rücken zu ihr stand. In seinem Hals steckte eine rosafarbene
Spritze, die im Takt mit dem Puls seines Körpers wippte.
Wer die
Frau war, die die nachfolgende Handlung ausführte, wusste sie nicht.
Sie selber
hatte während ihres langen Lebens nie etwas Waghalsiges getan, dennoch sagten
die Bilder ihrer Erinnerung, dass es tatsächlich sie war, Eva, die aus dem
Gebüsch vor der Hauswand der Villa kam und den Kolben der Spritze mit einer
resoluten Bewegung ihres Daumens hineindrückte. Als der Dünnhaarige zusammensank
und wider Erwarten das Bewusstsein verlor, waren ihr ebenfalls die Beine
weggesackt.
Sie konnte
sich noch daran erinnern, wie sie dachte, dass man so eine Aktion kaum von
einer gesetzestreuen schwedischen Juristin erwarten würde. Doch dann hatten die
Schmerzen überhandgenommen, und ihre letzte Erinnerung bestand darin, dass sie
diese Tabletten schluckte. Eine vage Empfindung der holprigen Fahrt des Wagens
über die Djurgärdsbro, alles Weitere war verblasst.
Eva drehte
den Kopf und öffnete
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