Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Mittel.“
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In der Magnetschwebebahn schaut sie aus dem Fenster, und sie sieht die Mama, wie sie da im Bett liegt, blaß, zerbrechlich, und überhaupt nicht wie jemand, der Anfang 60 ist – diese Schauspielerin, die Wendy neulich im Fernsehen gesehen hat, die ist doch auch Mitte 60, und wie sieht die aus, bitte –, sondern eher 70, über 70, ja, die Mama, die bis vor kurzem immer die Getränkekisten und die Einkaufstüten selber in den dritten Stock hochgetragen hat, ohne den Lift zu nehmen – a Lift is was für alte Leut’ –, die im Schlafzimmer im knielangen Hemd vor ihrem Sockel stand und Köpfe, Tiere und Pflanzen aus Gips knetete . . . die Mama, wie sie da im Bett liegt und zum Abschied schwach den Arm hebt . . . wie sie den Kopf gereckt hat und Wendy, die sich noch mal in der Tür umdreht, einen Kuß durchs Zimmer schickt, mit großen, ja, ängstlichen Augen nachschaut . . .
„Wir erreichen in Kürze Nürnberg Hauptbahnhof“ ist aus dem Waggonlautsprecher gekommen, „dort haben Sie Anschlußmöglichkeiten mit dem Country-Expreß nach Regensburg, Ingolstadt, Weiden.“
Wendy sieht die vorbeiflitzenden Baumwipfel, einen Hügel in der Ferne, Dächer, eine Kirchturmspitze, den Kondensstreifen am Himmel, unbeweglich. Plötzlich ist sie aufgesprungen und hat in das überraschte Gesicht des grauhaarigen Rentners gegenüber geblickt.
Die, seine?, Frau neben ihm hat gesagt: „Na, denn mal aber schnell.“
Wendy denkt: Heute ist Sonntag, und morgen ist Montag, und der Termin beim Frauenarzt ist Dienstag um 11:30 Uhr.
Sie zieht ihre Reisetasche aus dem Gepäckfach und stellt sich in die Schlange, die am Ausstieg ansteht.
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Nein, sagt der Pförtner der Firma Wildberg , die, glaubt Wendy sich zu erinnern, entweder Wurst oder Joghurt herstellt. Seine Stimme klingt durch den Lautsprecher in der Glaswand, hinter der er in seinem Kabuff sitzt, metallen, im Hintergrund Schlagergedudel.
Eine Firma Wallner gebe es hier im Gewerbepark nicht und habe es, seines Wissens, und er sei hier, seit Wildberg hier sei, seit 15 Jahren also, nicht gegeben. Im Gewerbepark in Chammünster und in Cham überhaupt. Die älteste Firma hier? Ja, er denke, die am Ende der Straße, die sei am längsten schon hier, der Heizkessel-König . Seit Jahrzehnten. Könne schon sein, daß die mal einem Wallner gehört habe. Aber sonst?
Wendy ist mit dem roten Leih-Mercedes, A-Klasse, den sie am Bahnhof in Nürnberg zum F-Klasse-Sonderpreis bekommen hat, die gerade Straße des Gewerbeparks entlanggefahren. Süssmayer-Möbel , Van Riet & Co. , Kellerer-Küchen , Kellerer-Küchen vielleicht, das Gebäude macht einen guten Eindruck, viele Autos parken davor, Flaggen mit zwei gelben Ks auf blauem Hintergrund wehen am Straßenrand, das Geschäft scheint gut zu gehen. Aber das Gebäude sieht zu neu aus, als daß es von Costins Vater sein könnte; außerdem passen Küchen nicht zu dem Bild, das Costin bei den wenigen Erzählungen aus seiner Kindheit und Jugend von seinem Vater vermittelt hat. Papa Wallner, wie war sein Vorname? Steffen? Stefan Wallner! Genau!: Durchaus ein Mann von Welt, immer beschäftigt, viele Angestellte.
Wendy hat vor dem letzten Firmengebäude in der Straße gehalten. Hinten kommen nach den Wiesen noch einige Grundstücke, die umzäunt oder von dichten Büschen umgeben sind, so daß man nicht hineinsehen kann, Privatgelände wahrscheinlich. Die Straße ist voller Schlaglöcher, wer weiß, ob da überhaupt noch jemand wohnt, alles macht einen recht verwunschenen Eindruck. Es hat zu tröpfeln angefangen. Wendy wird jetzt nicht aussteigen und ohne Schirm zur Firma latschen und fragen, ob das hier mal einem Herrn Wallner gehört habe, und wenn nicht, welche Firma dann, ob man ihr das sagen könne, das muß doch rauszubekommen sein, for Pete’s sake.
„Meinst du, das ist es?“ fragt Wendy das Kommunikationsprogramm des Mercedes, das ihr die Fahrt nach Cham verkürzte.
Aus den Themenbereichen, die zur Auswahl standen, hatte sie sich für Königshäuser im 20. Jahrhundert entschieden. Sie hatte mit dem Programm eine angeregte Diskussion über Lady Di geführt. Das Programm wußte vieles, was Wendy gar nicht klar war.
„Könnte sein, Wendy“, sagt die Frauenstimme des Programms.
Wendy wird zu Hause mal eine Online-Suche machen und sich aus der Stabi ein Buch über Cham ausleihen. Das wird sie machen. Einstweilen genügt es, daß der Heizkessel-König ungefähr der Vorstellung entspricht, die sie sich von Stefan Wallners
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