Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
seinen alten Freunden, sogar seiner Frau – seinem Sohn entgingen sie nicht. Waren da nicht zu lange Umarmungen bei den Begrüßungen gewesen? Nicht Telefonate, bei denen sein Vater ihm auftrug, auch ja Grüße an seine ‚liebe Frau‘ auszurichten? Der wie zum Spaß um die Hüfte seiner Frau gelegte Arm des Vaters? Der auf dem Gesicht seiner Frau lastende Blick des Vaters? Und wie scherzte doch in der Gegenwart Anas der Vater, der sonst nie zu Scherzen aufgelegt war, und machte Witze, er, der früher auf die Bitte seines Sohnes hin immer behauptet hatte, er kenne gar keine.
Und so, ohne daß mein Großvater meinen Urgroßvater auch nur einmal darauf angesprochen hätte und sich mein Urgroßvater vor meinem Großvater verteidigen hätte können, ja, auch ohne daß sich mein Urgroßvater jemals meiner Großmutter tatsächlich erklärt hätte, erhielten meine Urgroßeltern keinen Besuch mehr aus der Oberpfalz, zu Festen lediglich förmliche, gleichwohl immer noch freundliche Glückwünsche oder Anrufe, und auf die Frage hin, was denn nur sei, ausweichende Antworten, es gäbe viel zu tun in der Firma, man expandiere jetzt, die Reise sei so weit, nein, ein Besuch in Cham sei Ana, die ja dann alles herrichten müsse, nicht zuzumuten, man komme schon einmal wieder, wenn es besser gehe. Und meine Großmutter spielte mit – log am Telefon auf die Bitte oder besser: Order meines Großvaters hin; nein, es sei wirklich schlecht dieses Jahr, und nahm das leise Vibrato in der Stimme meines Urgroßvaters als Beweis dafür, daß mein Großvater recht gehabt hatte, als er ihr an einem Abend von seiner zunächst kaum zu glaubenden Vermutung erzählte und aus der Vermutung beim gemeinsamen Sich-Erinnern an zurückliegende Episoden eine Gewißheit wurde und aus der Gewißheit der gemeinsam gefaßte Entschluß, daß zwar mein Großvater noch ab und zu mit Costin nach Bergisch-Gladbach fahren würde, ‚wenn es sich ausgehe‘ (es ging sich dann immer seltener aus) – allerdings vorerst, ja, ‚vorerst‘ ohne meine Großmutter, für die Entschuldigungen erfunden wurden, ‚unpäßlich‘, ‚auf Geschäftsreise‘, ‚Grippe‘. Manchmal freilich, da lag meine Großmutter nachts wach oder hielt mein Großvater in der Arbeit inne, und sie dachten, man solle sich vielleicht doch einmal aussprechen, vielleicht hatte man ja übertrieben, meine Urgroßmutter kränke sich doch so, dann sei es aus der Welt, man sei ja schließlich vernünftig.
Aber als dann tatsächlich einmal meine Großmutter, von solchen Gedanken geplagt, die Nummer meiner Urgroßeltern wählte, entgegnete ihr, noch ehe sie ihr Anliegen vortragen konnte, die kühle Stimme meines Urgroßvaters, Renate und er seien gerade sehr beschäftigt, man habe keine Zeit, ob sie es später noch einmal versuchen könne, danke, und es war ihr, als hörte sie aus dem Telefon die Stimme meines Großvaters, als er meine Urgroßeltern immer wieder aufs neue auf ein Später vertröstete.
Um so schwerer traf es dann meine Großeltern, als eines Morgens meine Großmutter ans Telefon ging und sie aus dem Schluchzen meiner Urgroßmutter nur Bruchstücke verstand, etwas von ‚Zugunglück‘ und ‚Rückfahrt von einem Freund in Essen‘, und ‚Papa tot‘, ‚ist tot‘.“
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Da ist es. Auf dem Bildschirm steht Willkommen . Kleiner, weiß auf schwarz, darunter Im Andenken an das Unglück des ICEs Heinrich Heine . Das letzte Update liegt schon über 20 Jahre zurück. Der Betreiber der Seite, ein Hinterbliebener vielleicht, muß sie vergessen haben, vielleicht ist er gestorben, hat die Domain im voraus oder vielleicht per Dauerauftrag bezahlt.
Sie sagt: „ARCHIV“, dann „ZEITUNG“.
„Gestern kam es auf der Strecke Essen–Köln zu einem schweren Zugunglück. Aus bisher noch ungeklärten Gründen entgleiste um 9:37 Uhr der ICE Heinrich Heine auf offener Strecke. Dabei starben nach Polizeiangaben 20 Passagiere, über 65 wurden verletzt.“
Sie sagt: „FERNSEHEN.“
Der Nachrichtensprecher, der eine gelbe Krawatte mit roten Punkten trägt, schaut in sein Skript und liest mit monotoner Stimme vor, daß sich heute vormittag ein schweres ICE-Unglück auf der Strecke Essen–Köln ereignet habe.
Sie sagt: „STOP.“
Das kann sie alles nicht brauchen. Infos schön und gut. Aber zu abstrakt. Sie will wissen, wie das für die war, die dabei waren, die drinnen saßen. Was hat Günter Wallner gesehen, was gehört?
Sie sagt: „AUGENZEUGEN.“
Eine Frau, ungefähr ihr Alter, sagt mit
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