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Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)

Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)

Titel: Wallner beginnt zu fliegen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas von Steinaecker
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Costin einmal die Woche in Regensburg besucht, studiert er zusammen mit anderen Jugendlichen bei einem ehemaligen Juror einer Casting-Show Choreographien der aktuellen Popgruppen ein. Es ist sein größter Wunsch, gecastet zu werden. Wie Wallner weiß, steht an der Wand neben der Tür des Hobbyraums Anas Camcorder auf einem Stativ. Costin filmt seine Tanzschritte und schaut sich dann die Aufnahmen an, um eigene Fehler zu erkennen und seine Wirkung auf ein mögliches Publikum zu überprüfen. Kurz nachdem Ana Costin ihren Camcorder geschenkt hatte, hat er in seiner Freizeit mit seinen Freunden, vor allem aber zu Hause, beim Essen, während Wallner und Ana fernsahen oder sich unterhielten, gefilmt, bis es Wallner zuviel wurde und er es ihm eines abends verbot. Wallner hatte wieder Ärger in der Firma gehabt, war zu Hause von Costin überrascht worden, der ihm beim Aufsperren der Haustür und Eintreten im Flur mit dem Camcorder aufgelauert hatte.
    Wallner hat sich seit der Auflösung der Wohnung seines Vaters oft, bei der Arbeit in der Firma oder abends, kurz vorm Einschlafen, vorgestellt, wie er in den Keller geht, die Hobbyraumtür hinter sich schließt, wie sein Blick über die hier gelagerten Möbel schweift, die braunen Umzugskartons, wie er ihre Laschen auseinanderzieht und nach und nach die Gegenstände herausholt, die er damals in Bergisch-Gladbach, hastig und ohne sie wirklich anzusehen, umgeräumt hatte, die Fotos, die Aktenordner, den Fernseher, das Radio.
    Wallners Blick schweift über die neuen Möbel, die Stehlampe, die zusammengerollten Teppiche, das Nachttischchen, das, sobald er seine Bankausbildung macht und eine eigene Wohnung hat, Costin bekommen soll. Wallner zieht die Laschen des Umzugskartons gleich neben der Tür auseinander und nimmt die Schuhschachtel heraus, in die er die Fototaschen aus den Schreibtischschubladen seines Vaters gelegt hatte.
    Wallner hat sich vorgenommen, lediglich Stichproben durchzuführen und nicht alle Fotos anzuschauen. Man hebt einen Stoß Fotos ab, betrachtet das zufällig aufliegende Bild, in diesem Fall: den etwa 50jährigen Günter Wallner mit Kniehosen und Wanderstock vor einer Waldkulisse, ungewohnt: mit schwarz-grauem Bart. Hier, im abgeschlossenen Hobbyraum, ist es dann auch, im Unterschied zu Bergisch-Gladbach, wo Ana anwesend war, möglich, den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
    Es tut gut, einfach einmal so für eine Minute zu weinen, aus Trauer darüber, daß der Vater gestorben ist, daß man nie wieder mit ihm reden können wird.
    Das nächste Foto, das aufliegt, nachdem Wallner einen weiteren Stoß abgehoben hat, zeigt seinen Vater, ungefähr 70, an der Seite einer etwa gleichaltrigen Frau, wasserstoffblond, er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, beide lächeln, im Hintergrund der Petersdom.
    Wallner sagt: „In Rom ist er auch gewesen.“
    Handelt es sich bei der Frau um eine der Lebensabschnittsgefährtinnen seines Vaters, so wird sie seine letzte gewesen sein. Allerdings können die beiden zum Zeitpunkt des Tods von Wallners Vater nicht mehr zusammengewesen sein, jedenfalls war die Abgebildete nicht im Testament berücksichtigt worden. Sie und sein Vater werden, solange sie ein Paar gewesen waren, Ausflüge wie hier nach Rom gemacht, Kirchen und Museen besichtigt haben, gemeinsam essen gegangen sein. Sein Vater wird ihr viel von sich erzählt haben und dabei, zwangsweise, auch auf ihn, den Sohn, zu sprechen gekommen sein. Die Lebensabschnittsgefährtin wird Wallners Kindheit und Jugend kennen und über seine Familie Bescheid wissen, die Version des Vaters, versteht sich. Sie wird versucht haben, Wallners Vater zu erreichen und wird ihm zuerst höfliche, dann vielleicht immer verzweifelter werdende, in jedem Fall aber inzwischen wieder gelöschte Nachrichten auf dem AB in der Kiste rechts hinterlassen, von seinem Tod aus den Zeitungen erfahren, geweint, eine Kerze an seinem Grab angezündet haben.
    Sollte sie eines Tages hier in Cham anrufen und Forderungen stellen, dann weiß Wallner jetzt, wie er sie sich vorzustellen hat.
    Die nächsten Fotos aus dem Stoß sind Aufnahmen von Blumen.
    Unter der Schuhschachtel mit den Fototaschen liegt das mit dunkelblauem Filz bezogene Album. Als er ein Kind war, hat er es zusammen mit seinem Vater angeschaut, später, während der Schulzeit oder wenn er von Regensburg aus auf Besuch war, auch allein. Nahezu dieselben Bilder kleben in einem anderen in dunkelbraunes Leder gebundenen Album, das er von seinen

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