Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Ana.
„Doch“, sagt Wallner, ohne von der Zeitung aufzuschauen. „Steht hier alles drin. Die schreiben das ja auch einfach so, als wäre es das Normalste von der Welt, und hier regt sich ja auch keiner auf, in anderen Ländern, Skandinavien, Frankreich wäre das undenkbar, aber warum soll man sich hier auch darüber aufregen, man kann . . .“
„Man kann ja eh nichts machen!“ sagt Costin schnell.
Wallner schaut Costin überrascht ins Gesicht. Wallner ist sich nicht sicher, ob Costin das eben ernst gemeint hat.
„Ich sage euch: Irgendwann, spätestens wenn ich in Rente gehe und der Uli den Laden übernimmt, dann hau ich ab!“ Costin ist jetzt Wallner. Wie Wallner verleiht er den Wörtern Nachdruck, indem er beim Reden die Augen für Momente schließt und mit dem Kopf nickt. Wallner wird erst jetzt bewußt, daß er selbst eben diese Geste gemacht hat, er macht sie immer, aber er achtet gar nicht mehr darauf. Ana lacht. Sie möchte nicht mitspielen, um Wallner zu ärgern, findet Costins Vorstellung aber anscheinend witzig und vor allem auch treffend. Wallner könnte Ana und Costin erzählen, daß er glaubt, neulich abends in der Firma einen Einbrecher gesehen zu haben, und daß Wiget irgendwoher erfahren hat, daß Wallner bei Dr. Kaduk war.
Wallner sagt: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig.“
Costin sagt: „Jaha. Dann hau ich ab und nehme mir ’ne Wohnung in Paris! Da kann man auch mit wenig gut leben. Die Franzosen sind da viel weiter als die Deutschen. Savoir vivre kommt nicht von ungefähr. Jaha. Ihr lacht.“
Wallner hat zu lachen begonnen. Einerseits ist das zwar ein bißchen peinlich, so vorgeführt zu werden. Andererseits macht Costin das aber gerade richtig gut, und Wallner möchte kein Spielverderber sein.
Er sagt noch einmal: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig“, weil er weiß, daß Ana dann gleich zu ihm schauen und etwas Tröstendes sagen wird.
Ana schaut zu ihm und sagt: „Aber nein. Du weißt doch, wie das gemeint ist.“
23
Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen auf dem Sessel vor dem Schreibtisch in seinem Büro.
Vor seinem inneren Auge sieht er das Bett in seinem Schlafzimmer. Ana und er schlafen miteinander. Er stützt sich mit den Armen von der Matratze ab, die beige Decke mit Karomuster ist bis zu seinem nackten Gesäß gerutscht. Unter ihm liegt Ana. Sie hält sich mit beiden Händen an seinen Schultern fest und hat die Beine angewinkelt. Der grau-schwarze Haaransatz in Wallners Nacken ist naß. Er hat dabei die Stirn in Falten gelegt, den Mund leicht geöffnet. Seine Augen sind zusammengekniffen.
24
Das Glastischchen steht links von seinem Schreibtisch, die Stehlampe aus dem Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach, die den Eltern seines Vaters oder seiner Mutter gehörte, ist hinter der Milchglasscheibe im Sekretariat als gelber Fleck sichtbar, das schwarz bezogene Sofa, das, soviel er weiß, seine Eltern für ihr erstes Haus in Leverkusen kauften und auf dem er als Kind mit Soldatenfiguren spielte – die Rille ein Schützengraben –, befindet sich jetzt in Wigets Büro, davor der Orientteppich, den die Eltern seiner Mutter von einer Reise aus Indien mitbrachten. Mit der weißen Kaffeemaschine aus der Küche seines Vaters machen alle Angestellten in der Teeküche der Firma im ersten Stock ihren Kaffee.
Wallner liest am Schreibtisch gerade die Unterlagen für das Projekt Brandenburg . Nach der Landflucht der vergangenen Jahre, die weite Teile Brandenburgs verwaist zurückließ, garantiert die Landesregierung jedem Bauern, der zurückkommt, das nötige landwirtschaftliche Gerät für zwei Jahre umsonst zur Verfügung zu stellen. Wallner & Wiget wurde aufgefordert, dem Landwirtschaftministerium ein Angebot zu unterbreiten. Wallner weiß, daß außer Wallner & Wiget noch zwei andere Firmen für das Projekt angefragt sind – van Riet in Hamburg und Gries in Jena, der den Standortvorteil hätte. Vieles wird von der Video-Konferenz übermorgen nachmittag abhängen, dem Eindruck, den er und Wiget beziehungsweise Wallner & Wiget bei den Vertretern des Bauernverbunds Brandenburg und dem Landwirtschaftsministerium machen werden. Sollten sie den Auftrag erhalten, würde das nicht nur unmittelbare finanzielle Auswirkungen haben, auch langfristig würde sich das auszahlen, die Bauern, sofern das Projekt von Erfolg gekrönt ist, würden ihnen über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Treue halten und weiter bei ihnen Ersatzteile für neue
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