Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
seinem Bett gestanden und gesagt, sie sei jetzt da. Sie bleibe jetzt. Oder es ist Romy. Nein. Romy gibt es nicht mehr. Richtig. Romy ist doch dann bei ihm ausgezogen, weil sie nicht mehr konnte oder weil ihr das alles zuviel wurde. Ja. Wendy. In einem dunkelblauen Kleid mit roten und gelben Blumen. Jetzt kommt wieder der Schmerz. Immer zuerst das Pieksen. Lauter kleine Punkte, die pieksen. Dann das Stechen, jetzt in der Wange, links, in den Fingern auch schon, links, im Arm, den Zehen. Dann rechts. Eigentlich dürfte er doch rechts gar nichts spüren. Nach einem Schlaganfall spürt man doch nichts auf der Seite, die gelähmt ist. Aber der Schmerz ist trotzdem da. Komisch. Nennt man das Phantomschmerz? Er wird diesmal nicht stöhnen. Das nimmt er sich fest vor. Nicht stöhnen. Er stöhnt. Es ist nicht zum Aushalten. Er hat gestöhnt, und Wendy, es muß Wendy sein, hat irgend etwas gerufen, ist näher gekommen, und jemand in Weiß, die Krankenschwester, der Pfleger, irgendwer, ist an sein Bett getreten, sein linkes Bein hat er schon ganz gefühlt, bis zur Hüfte. Sein ganzes linkes Bein. Als ob es brennt, als ob er verbrennt. Die Stimme des Pflegers, es ist ein Pfleger, die Geräusche vom Geräteständer hat er gehört, gleich wird es kommen, das Morphium, es wird sicher kommen, gleich, vielleicht in fünf Sekunden, er hat das doch mal gezählt, gerade dann, wenn man denkt, man hält es nicht mehr aus, eins, zwei, drei, vier, fünf. Dann ist der Schmerz in seinen Fingern weg, verschwindet das Gefühl aus seinem Arm, verschwinden sein Arm, Bein, die Zehenspitzen. Auch die beiden Flecken am Bettende sind geschrumpft, sind jetzt ganz klein. Ihm ist übel geworden, schwindelig, er muß die Augen zumachen. Es summt jetzt wieder in seinen Ohren. Es summt. Kann das? Ist es? Dieses Summen. Das Summen von Flügeln. Den Flügeln eines Riesenmaikäfers, der Dinu heißt, Dinu Mai, und dieses Gefühl zu schweben, zu fliegen. Costin lächelt. Er kennt schon die Aussicht, die sich ihm bieten wird, wenn er jetzt zu blinzeln beginnt, vorsichtig, wegen des Gegenwindes, die Augen aufmacht und sich vorstellt, was ihm wohl der dicke Dinu gleich sagen wird . . .
Wendy macht Geschichte
01
Und dann der hohe Ton, der jetzt schon eine Ewigkeit erklungen ist, der hastig gesprochene Dialog zwischen dem Arzt und der Krankenschwester, seine Frage nach Puls, Atmung, ihre immer gleiche Antwort, nach jedem Elektroschock, durch den Costin, durch den ihr Papa auf dem Bett in die Höhe geworfen wurde, den Rücken durchgestreckt, und dann plötzlich – – – Ruhe.
Jemand schaltet die Apparate neben dem Bett ab.
Sie hat die ganze Zeit wie angewurzelt auf der anderen Seite des Zimmers gestanden und auf ihren Papa, sein Gesicht gestarrt, das schüttere schwarzsilberne Haar, die gar nicht blassen, sondern leicht geröteten Wangen, wäre der Schlauch nicht, er sähe so aus, als lebe er noch, würde die Hand heben, gleich was sagen, irgendwas.
Erst als der Arzt den Mundschutz herunterzieht, die Handschuhe abstreift und der Schwester in demselben Tonfall, in dem er vorhin die Fragen an sie gerichtet hatte, diktiert: „Bitte notieren Sie, Zeitpunkt des Todes . . .“, da will Wendy zum Bett vor, ruft sie: „Aber der lebt doch noch! Der ist doch gar nicht tot, der ist . . .“
Jo hat sie zurückgehalten. Sie hat die Krankenschwester, den Arzt angeschaut, die Blicke sind mitfühlend gewesen, die Schwester sagt: „Kommen Sie, Frau Scharnagel, jetzt setzen wir uns dorthin.“
Wendy will nicht mitfühlend angeblickt werden. Sie will ihrem Vater noch etwas sagen. Sie möchte mit ihm sprechen können. Und sie dreht sich um, sie weint, und drückt sich an Jo und wünscht sich, Jo wäre in diesem Moment Esther, und sie weint in Jos Pulli, der nach Waschmittel riecht, „Aber ich will dem Papa doch noch was, ich möchte doch noch dem Papa.“
02
Und sie geht in ihrem Hotelzimmer zum x-ten Mal auf und ab, inzwischen nimmt sie die Möbel, den Teppich, das Fenster gar nicht mehr wahr, ständig sieht sie nur dieses Bild vor Augen, wie Costin daliegt . . . wie sich sein Rücken durchstreckt vom Elektroschock . . . dieser Schlauch in seinem Mund . . . und sie fühlt dann wieder dasselbe Gemisch aus Angst und Panik, das sie vor ein paar Stunden im Krankenhaus gefühlt hat, sie möchte jetzt nur, daß Esther endlich da ist, Esther hat gesagt, ihr Flieger komme um sieben, es ist doch schon nach sieben, Esther muß doch schon gelandet sein, Esther muß bald
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