Walpar Tonnraffir und der Zeigefinger Gottes (German Edition)
denn wer schaltet schon Werbespots zwischen Berichten über aussterbende, tumbe Meeressäuger, die bloß ihre heißen Tiefseequellen verlassen, um zu schauen, ob ihre geliebte Eisdecke immer noch verschwunden ist?
Auf dem Bildschirm erscheint ein Clowngesicht. Kerbil runzelt die Stirn.
Er sieht auf den ersten Blick, dass das Gesicht ein Avatar ist. Computergeneriert, mitsamt Pickeln und Hautunreinheiten, aber auf dem technischen Stand von kurz nach der Marsbesiedlung.
»Hey, du wurdest erfolgreich entgiftet, ist das nicht Klasse?«, fragt der Clown und hüpft auf und ab.
»Oh ja«, nickt Kerbil übertrieben heftig. Er hört sofort damit auf, als er merkt, dass sein Kopfweh noch nicht ganz abgeklungen ist.
»Hey, bitte achte darauf, dass du kein Spielzeug, keine Kleidung und keine Pillen in dieser Kammer vergisst. Fetten Dank im Namen deiner Nachbewohner!«
Kerbil sieht pflichtschuldig in alle Richtungen, aber er ist ohne Gepäck gekommen und wird nichts zurücklassen. Abgesehen von der pulsierend leuchtenden Masse in der Toilette, die aus seinem Magen stammt.
Natürlich ahnt Kerbil, dass er nur die sterblichen Hüllen der Psychips hervorgewürgt hat. Ihre Seelen sind nach wie vor mit seiner eigenen verschmolzen. Allerdings schadet das nicht, ganz im Gegenteil. Seine Sinne sind geschärft, seine Ziele klar – dank der Chips noch deutlicher als sonst.
Er ist der Assistent von Philip Marlowe, und er wird ihm bei der Lösung seines größten Falls zur Seite stehen.
Als die mit Vögeln und Blumen verzierte Tür der Kammer aufklappt, klettert Kerbil erfrischt hinaus. Er marschiert den Gang hinunter, ignoriert das Klopfen an einigen der anderen Türen, grüßt freundlich den Blechkameraden am Tresen, indem er den Hut zieht. Das sieht irgendwie seltsam aus, weil er ja gar keinen Hut hat, aber der Concièrge winkt arglos zurück.
Dann steht Kerbil draußen auf dem Boulevard, atmet die sandige Marsluft des neuen Tages und wirft einen Blick gen Himmel. Irgendwo da oben, hinter den braunen Wolken, versteckt sich die gute alte Erde. Kerbil hat das Gefühl, dass ihn dort schwarzweiße Gassen erwarten, tiefe Schatten unter alten Bäumen und prasselnder Regen auf dunstigen Autoscheiben. Er ist sicher, dass seine Ermittlungen ihn dorthin führen werden.
Als Kerbil nach einigen Schritten an einem Gratisautomaten vorbeikommt, studiert er aufmerksam das Angebot. Erfreut stellt er fest, dass das richtige dabei ist. Er schirmt mit seinem Körper den Schirm vor neugierigen Blicken ab. Dann nimmt er die nötigen Eingaben vor. Minuten später summt und knirscht der Automat, als wäre ihm zu viel Marsstaub in die Innereien geraten. Trotzdem spuckt er ein Päckchen mit Visitenkarten aus.
Auf der Vorderseite steht: »Kerbil Routwegen, Assistent von Philip Marlowe, Privatdetektiv.« Und auf der Rückseite: »Präsentiert von Dracula Zero, dem Szenegetränk echter Vampire.«
Kerbil begibt sich zu Walpars Wohnung und findet sie leer vor. Der Junge nickt wissend. Philip Marlowe ist natürlich unterwegs und stellt Nachforschungen an. Es wird höchste Zeit, dass Kerbil ihn dabei unterstützt. Leider ist die Chipstüte auf dem Sofa leer, also landet »Psychips kaufen« auf Platz eins von Kerbils mentaler Aufgabenliste. Als Nächstes wird er mit Araballa chatten, dazu setzt er sich vor Walpars Universal-Terminal. Mit ihr hat er als Kind im virtuellen Sandkasten Burgen, Schlösser und Raumstationen gebaut, die bei Invasionen tentakelbewehrter Aliens immer stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, aber schließlich durch einen überraschenden Auftritt eines zufällig vorbeikommenden Leinwandhelden im letzten Moment gerettet wurden.
Araballa ist es gewesen, die Kerbil zum elften Geburtstag sein erstes Aktienpaket geschenkt hat, aber ein Jahr später bei ihrer ersten realen Begegnung meinte, sein Avatar sähe ihm viel zu ähnlich. Ihr eigener virtueller Körper besitzt riesige Mangaaugen und einen runden Bauch, der es mit der Wirklichkeit nicht aufnehmen kann. Als Kerbil feststellt, dass Araballa online ist, öffnet er einen Chatraum. Aus der Liste verwendbarer Räume wählt er den Sandkasten, vertauscht allerdings das Sonnenlicht vom Typ »Warmer Sommertag« gegen »Altersschwacher Scheinwerfer in nächtlichen Kunstnebelschwaden«. Er lädt Araballa mit einem gezielten Wischer seiner Hand in den Raum ein. Dann setzt er sich mit seinem Avatar auf die Kante des Sandkastens. Während seine nackten Zehen den Sand umgraben, wartet er.
»Ich habe gerade mit
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