Walpurgistag
verschwindet sofort im Dunkel des Korridors. Viola Karstädt tritt zögernd über die Schwelle.
Sie steht auf schmuddelig weißem, nur provisorisch verlegtem Teppichboden und überlegt, ob sie jetzt noch umkehren kann.
Könnte sie nicht einfach sagen: Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich mich bedanken möchte für Ihre Hilfsbereitschaft, ich habe Ihre Telefonnummer leider verlegt, deswegen komme ich persönlich? Stattdessen zieht sie ihre Jacke aus und legt sie sich etwas unschlüssig über den Arm, denn die Flurgarderobe ist über und über mit Jacken behängt.
Ihr steigt ein strenger Geruch nach Katze in die Nase, und sie sieht dann auch schon ein weißes Fellbündel, das sie aus roten Augen feindselig anschaut. Die Vortäuschung einer Katzenallergie wäre die Lösung. Was, Sie haben eine Katze? Das haben Sie bei unserem Gespräch gar nicht erwähnt. Wie schade, danke für Ihr Angebot, ich habe mein Asthmaspray nicht mit. Da werd ich dann wohl mal wieder müssen. (Und den Hustenanfall nicht vergessen.)
Viola Karstädt steht unschlüssig im Flur und schaut an die Wände, von denen sich an einigen Stellen die Tapete gelöst hat. Im Nebenzimmer hört sie einen Mann reden, aber sie kann nicht verstehen, was er sagt. Durch den Türspalt sieht sie einen Kalender mit einem Foto der beiden Türme des World Trade Centers, nachts von der Brooklyn Bridge aus aufgenommen.
»Nehmen Sie einen Schläfer bei sich auf. Neuköllner bieten Mitarbeitern des Theaters auf Rädern für eine Nacht Obdach.« So steht es auf den Zetteln, die sie überall im Bezirk plakatiert haben. Jeder Schläfer wird mit Passbild, Alter, Geschlecht und Vorlieben vorgestellt. »Es ist der Versuch eines Theaters, die Auseinandersetzung mit der Welt nicht rein ästhetisch zu betreiben, sondern künstlerische Ansprüche auf die Wirklichkeit treffen zu lassen. Auf in theaterresistente Gegenden Berlins! Eine Schlafperformance mit der Wirklichkeit«, so hat Viola Karstädt das als freie dramaturgische Mitarbeiterin formuliert. Am häufigsten sind die jungen Assistentinnen gebucht worden. Keine von ihnen hat sich aber getraut, bei wildfremden Leuten in der Wohnung zu übernachten. Viele der Anrufer haben nur einen billigen Fick gesucht. Das hörte man ihnen schon an der Stimme an. »Geben Se ma die Nummer drei, und sagen Se se, ick verwöhn ihr die janze Nacht durch.«
Hier ist es wohl anders. »Komm Se doch rein«, ruft das Ehepaar Schöller aus dem Nebenzimmer, »wir sind hier.« Viola zieht langsam ihre Schuhe aus. Der Fernseher läuft. Er ist der Mittelpunkt des Raumes, in den Viola Karstädt nun tritt. Im Vorbeigehen sieht sie, dass das Kalenderblatt mit den beiden inzwischen zerstörten Türmen vom Juni 2001 ist. Es ist mit einem viel zu großen Nagel an der Wand befestigt.
Die Frau, die in einem der beiden Fernsehsessel sitzt, trägt den gleichen Jogginganzug wie ihr Mann. Die Jacke hat über der Brust Ketchupflecken, über der Lehne hängt ein mit derselben Soße bekleckertes Lätzchen. Viola Karstädt versucht, dem weiträumig auf dem Fußboden verteilten Spielzeug auszuweichen. Ein Matchboxauto bohrt sich in ihren rechten Fußballen, als sie der Frau die Hand geben will. Viola Karstädt verzieht das Gesicht. »Entschuldigung, ich hab’s nicht geschafft aufzuräumen«, sagt die Frau, deren Blondierung am Scheitel herausgewachsen ist. »Macht nichts«, sagt Viola und verkneift sich die Bemerkung, dass sie auch Kinder habe. »Setzen Sie sich doch. Ich bin Melanie, und das ist Ulfi.« – ? »Viola.«
Die Frau schaut schon wieder auf den Bildschirm. Zwei fette Typen, in den diagonalen Ecken eines Boxringes stehend, blicken sich feindselig an, dann fangen sie nach einem Zeichen an zu schnaufen, pumpen sich auf und laufen mit einem Schrei, der an die Urrä-Rufe russischer Soldaten im Kampf um Berlin erinnert, los, um sich ineinander zu verkrallen. Ihre fetten Ärsche zeigen in die Luft, die Köpfe sind nicht zu sehen, ein Wust von Haaren wirbelt herum, dann liegen sie zusammengekugelt auf dem Boden, ein Mensch, der entfernt an einen Kampfrichter erinnert, schreit, der Saal brüllt. Keiner im Raum sagt ein Wort, alle starren auf den Bildschirm. Soll Viola erzählen, dass ihre Mutter eine Zeit lang mit Vorliebe Wrestling gesehen hat, um ihren Mann zu ärgern? Der größere Kämpfer mit den blonden Locken packt den anderen am Gürtel und knallt ihn auf die Erde. »Das muss doch wehtun«, sagt Melanie. »Soll’s ja auch«, sagt Ulfi, »kann man ein
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