Walpurgistag
den Toten der Polizei. Der Kapitän gab zu Protokoll, sie hätten nicht gewusst, wohin mit ihm. In der Kühlzelle war er schön frisch geblieben.« Jetzt ist Ruhe im Raum. » War das alles?«, fragt die Norwegerin. »Ja«, sage ich und bin schon dabei, mir die Flasche zurechtzulegen. Ich drehe mit Schwung – und der Flaschenhals zeigt erneut auf mich. Ich suche fieberhaft nach einer besseren Geschichte, aber mir fällt nur wieder eine mit einer Kühltruhe ein. »O.k., noch eine, wo’s friert. Es war einmal ein Mann in Wisconsin, der stritt sich mit seinem Nachbarn um den Zweig eines Apfelbaums, der zu weit über den Maschendrahtzaun in sein Grundstück hineinragte. Der Streit eskalierte, und der Mann
aus Wisconsin holte seine Schrotflinte, die er für 39,90 Dollar im Supermarkt gekauft hatte, und schoss dem Nachbarn in den Hintern. Die eintreffende Polizei wurde vom Täter auf das Unflätigste beschimpft. Die nahm die Gelegenheit wahr und stellte das Haus auf den Kopf. Dabei fand sie in der Gefriertruhe seine tote Ehefrau.« – » War die auch filetiert?«, fragt eine der Italienerinnen. »Nee, die war ganz, aber tiefgefroren. Mehr weiß ich auch nicht.« Ich drehe schnell, endlich stoppt die Flasche bei einer anderen Frau. Ich will schon aufstehen, um endlich meine Perücke zu richten, da bemerke ich den Typen vom Tresen, der eine neue Flasche auf den Tisch stellt und mich ganz ruhig und mit einem eiskalten Hauch in der Stimme fragt: »Sag mal, bist du nicht die, die ihren Vater erst eingefroren und dann um die Ecke gebracht hat?« Genauso eiskalt und mit keinem Fünkchen Emotion antworte ich: » Wie kommst du denn darauf? Willst du hier Geschichten erzählen?«
In diesem Augenblick klingelt es am Tresen. Der Typ dreht sich um. Alex kramt ein Handy aus dem Rucksack, geht ran, sagt: »In Ordnung«, und zu mir gewandt: »Telefon, Danielle, dein Vater ist dran.« Ich verdrehe die Augen, was aber sinnlos ist, denn es sieht sowieso niemand, weil ich immer noch die Sonnenbrille aufhabe. »Der schon wieder. Kann der nicht mal einen Tag allein sein.« Ich tue ziemlich genervt. Alex reicht mir das Telefon und gibt mir einen Stoß in den Rücken, was so was wie »sofortiger Abflug« heißt. Am anderen Ende ist niemand, aber ich tue Alex den Gefallen und rede eine Weile mit meinem Vater, der mit mir in den Tierpark gehen will. Ich schlage ihm den Zoo vor. Rede. Gegenrede. Rede. Gegenrede. Ich lasse mich breitschlagen und sage: »Ja, o.k., ich komme. Aber du musst wissen, solltest du mal beerdigt werden, gehe ich auch eher, und zwar in den Zoo, dass du’s weißt.« Mein Vater ist einverstanden. Ich drücke auf den roten Knopf und gebe Alex das Handy zurück. Es hat überhaupt keine Simkarte. Nur die Notruffunktion. Alex hat es mal irgendwo aus einem Papierkorb gefischt. Wahrscheinlich hat er eben heimlich den Klingelton ausprobiert.
»Ich muss weg«, sage ich, »mein Vater ruft, der alte Schwerenöter. « Ohne den, der mich für Annja Kobe gehalten hat, noch eines weiteren Blickes zu würdigen, nehme ich meine Umhängetasche, grüße in die Runde und mache mich aus dem Staub. Aki hat inzwischen seine Bollywood-Kassette in die Anlage eingelegt, ist zwischen den Mädels hindurch auf den Tisch gesprungen und schwingt da oben die Hüften. Sie klatschen im Takt. Alex nickt mir zu und sagt zu dem Mann hinterm Tresen: »Du wirst in sechs Jahren tot sein, aber sag’s niemandem weiter. Und dieses Etablissement wird’s dann auch nicht mehr geben. Panta rhei. Carpe diem. Nichts für ungut.« Die Antwort kann ich schon nicht mehr hören.
13.00 Uhr
Viola Karstädt korrigiert im Wartezimmer einer Kinderarztpraxis einen Text, in dem ein gewisser Erich Mühsam vorkommt
Es war ein Tag Anfang April 1933, als ein Transport aus den Gefängnissen Berlins in ein Konzentrationslager irgendwo in Deutschland ging. Der Gefangenenwagen wurde an einen normalen D-Zug angehängt, der sich, einem korrekt ausgearbeiteten Fahrplan gehorchend, Viola Karstädt korrigiert in: den Abfahrtszeiten eines korrekt ausgearbeiteten Fahrplanes gehorchend , dann liest sie weiter, den Korrekturstift über den Zeilen schwenkend, bald in Bewegung setzte . Aus der Sicht der Zelle eines Gefangenenwagens kam einem das Leben da draußen mit seinen alltäglichen Regeln wie eine Unerhörtheit vor. Jeder der Gefangenen war vor mehr als dreißig Tagen von einer Minute auf die andere aus seinem normalen Leben gerissen und ohne Anklage verhaftet worden, und je mehr Zeit
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