Walpurgistag
auch kapitale Leichen im Keller. Das werde abgeklärt, und dann fange die eigentliche Aufstellung an, die von der Klientin begonnen und von ihr als Therapeutin interpretiert und umarrangiert würde, bis alle Probleme ausgeglichen seien. Und wenn jemand die Leichen im Keller verschweige, unterbrach Micha Trepte ihren Redefluss und dachte daran, dass er niemals fremden Leuten nur ein Sterbenswort über die Ehe seiner Eltern erzählen würde, die alles andere als glücklich gewesen war. Das könne nicht im Sinne ihrer Klienten sein, sagte die Therapeutin, die wollten ja ihr Lebensproblem lösen, und da seien Lügen nicht sehr hilfreich. Micha nickte und packte die Rohrzange aus.
Der Klient wähle aus den Teilnehmern Stellvertreter, fuhr die Therapeutin mit ihrer Erklärung fort, die die einzelnen Mitglieder seiner Familie verkörperten, dabei sei wichtig, dass Männer Männer seien und Frauen Frauen. Leider gebe es nie genügend Männer, die bei Familienaufstellungen mitmachten, obwohl die es gerade nötig hätten. Im gegenwärtigen Fall sei die Sache schon in vollem Gange, nur eben unterbrochen. Der Vater sei eine wichtige Figur im Gefüge der Familie, die es zurückzuholen gelte in die Mitte der Gemeinschaft. Man sei schon so weit gekommen, zum Kern des Problems vorzudringen, und deswegen seien die weiblichen Stellvertreter auch auf ihrer Position stehen geblieben, nachdem der Vaterdarsteller aufgegeben hätte.
Ehe Micha auch nur noch ein Wort sagen konnte, hat die Therapeutin ihn schon sanft in den Behandlungsraum geschoben, wo vier Frauen in verschlungenen Positionen standen, die Micha Trepte an eine weibliche Laokoongruppe ohne Schlangen erinnerte. Das sei der neue Vater, eröffnete die Therapeutin, wie denn sein Name sei, man duze sich hier nämlich. Er heiße Thomas, sagte Micha. Er spürte sofort die Feindseligkeit, die ihm entgegenschlug. Nur eine junge Frau, die von einer älteren umklammert wurde, schaute ihn offen und neugierig an. In der
Mitte habe er die Mutter der Klientin, seine Ehefrau sozusagen, im wirklichen Leben die Vera, erklärte ihm die Therapeutin. Dahinter sehe er die Hanna, die die Großmutter verkörpere, die wiederum den toten Bruder, ihren Enkel, halte, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Das Problem mit der Verklammerung des toten Bruders sei fast schon gelöst, aber man müsse das noch einmal im Zusammenhang mit der Vaterfigur sehen. Den Bruder habe man leider aus Mangel an Männern mit der jüngsten Teilnehmerin, der Laura, besetzen müssen. Und rechts, einen Schritt entfernt, stehe die Sandra, die Vertreterin von Simone, die sich mit ihrer Familienseele versöhnen wolle, damit sich das Problem nicht in der nächsten Generation fortsetze, denn Simone wolle bald heiraten und auch Kinder haben.
Simone war eine fast phlegmatische Schwarzhaarige, deren dünne Gestalt zu ihrer Behäbigkeit nicht passen wollte. Vielleicht stand sie unter Psychopharmaka, dachte Trepte. Sie solle doch bitte ihrem Vater den Platz zuweisen, bat die Therapeutin, und Simone schaute Micha hasserfüllt an. Er konnte sich denken, dass sie ihn so weit wie möglich vom Rest der Familie wegbewegen würde. Und wirklich, er landete unsanft in der Ecke, da, wo der Gaszähler war. Er legte die Rohrzange griffbereit in die Nische. Die Therapeutin fragte mit sanfter Stimme, was denn mit dem Vater sei, und Sandra als Vertreterin der Phlegmatischen brach in Tränen aus. Ob er ihr etwas getan habe? Simone und ihr Double nickten. Ob er sie missbraucht habe, bohrte die Therapeutin weiter. Sandra nickte, und Simone brach in Tränen aus. Trepte wurde es mulmig. Lieber bei alkoholisierten Schuldnern oder auf Kirchtürmen ablesen, als so was mitmachen. Vielleicht war das alles Scharlatanerie, und am Ende begingen hier welche Selbstmord, oder noch schlimmer, die Frau ginge mit irgendeinem Gegenstand auf ihn los. Ober besser noch ihre Stellvertreterin Sandra, die ihn fünf Meter entfernt mit anklagendem Blick, als wäre sie eben von ihm geschändet worden, ansah und nach Atem rang. Sie konnte zum Beispiel die Rohrzange nehmen.
Trepte verstand den Mann, der mit fliegenden Fahnen die Praxis verlassen hatte. Und er verfluchte sich dafür, dass es ihm nie gelang, laut und deutlich Nein zu sagen.
Er solle ihr nachsprechen, dass es ihm leidtue, dass da etwas schiefgegangen sei, sagte die Therapeutin. Was nachsprechen, das sei nicht abgesprochen, aber die Therapeutin sagte scharf, die Regeln bestimme immer noch sie. Er sei
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