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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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doch nicht ihr Vater, hörte sich Micha Trepte sagen, was zweifellos richtig war, aber nicht der Regieanweisung entsprach und seine gedachte Tochter völlig in Verzweiflung versetzte. Sie ging zur Mutterdarstellerin, schüttelte sie und fragte, wer denn ihr leiblicher Vater sei, aber die zuckte nur mit den Schultern: verschwunden, vor der Geburt.
    Nun sei mal Schluss mit dem ganzen Theater, sagte Micha Trepte in seiner Ecke, sie machten doch das Mädel ganz kirre, die brauche echte Hilfe und nicht so ’n Budenzauber. Dann griff er sich die Rohrzange und klemmte so schnell, wie er es noch nie getan hatte, den Anschluss ab.
    Das Ganze hat ihn insgesamt zwanzig Minuten seiner Arbeitszeit gekostet. Auf das Trinkgeld verzichtete er, indem er wie der andere vor ihm aus der Praxis eilte. Diesmal rief die Therapeutin nichts hinterher.
    Micha Trepte tritt an den Zeitungskiosk. Er kauft eine Brigitte und einen Kaffee. Dann setzt er sich auf die Treppe zur U-Bahn und starrt auf die Beine, die herauf- oder heruntergehen. Er versucht, sich an den Geruch zu erinnern, der vor mehr als dreißig Jahren hier heraufwehte, als er mit seiner Mutter auf Berlinbesuch war. Trotz aller Anstrengung bleibt eine große olfaktorische Leere.

12.52 Uhr
Liebig liest Zeitung im Torpedokäfer, und Annja Kobe spielt mit dem Eis
    Liebig wartet schon eine Weile. Er sitzt am Tresen und hat sich alle Zeitungen von der Fensterbank genommen, wie er es auch an den Tagen tut, an denen kein Leichenschmaus stattfindet. »Alle mal herhören! Der Pariser Platz wird gepflastert. Das Tor ist zu!«, trötet er, aber die anderen im Raum sind mit sich beschäftigt, also fragt Liebig den Typen hinterm Tresen: »Zwingt Ferrari Schumi zum Verlieren?« Der Befragte poliert stoisch seine Gläser weiter und schaut ihm ausdruckslos ins Gesicht, als verstehe er seine Sprache nicht. »Oh, hier steht’s ja: >Der Frühling tut Ihnen richtig gut. Sie sind ausgeglichen und wissen auch die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen.<« Der Tresentyp öffnet die Falltür. Liebig sagt: »Es war nicht so gemeint, mach das Verlies wieder zu.« Das Bierfass muss gewechselt werden. »Der redet nicht mit mir«, sagt Liebig zu Alex, der gerade hereingekommen ist und nun etwas umständlich versucht, den Barhocker zu entern, »dabei bin ich eine lebendige Zeitung.« – »Du musst mal nach seinen Bedürfnissen fragen. Vielleicht will er ja lieber die Wirtschaftsseiten der FAZ vorgelesen bekommen.« – »Ich will, dass der Typ seine Klappe hält und mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt. Schließlich ist meine beste Kraft gerade verstorben«, tönt es aus dem Tresenschrank, dann entweicht Luft aus einem Ventil. »O.k., trauert ihr, ich wende mich dem Schachspiel zu.« Liebig faltet den Berliner Kurier ordentlich zusammen. »Dann erfahrt ihr eben nicht, dass die Wolken im Laufe des Tages dichter werden.« Liebig tauscht die Zeitung gegen das Schachspiel auf dem Fensterbrett aus und verzieht sich in die hinterste Ecke der Kneipe, wo ihn keiner stört. Seine Trauerarbeit ist für heute getan, er sieht das ganz professionell, obwohl der Tote schon so etwas wie ein Freund war. Die
anderen, rund zwanzig Leute, in der Mehrzahl Frauen, sehen Aki dabei zu, wie er mit tänzelnden Schritten, was mir zeigt, dass er mal wieder eine Freundin sucht, die im Raum verteilten Vierertische zu einer langen Tafel umarrangiert. Die Frauen entfalten weiße Tischdecken und rücken Stühle. Am Tresen läuft der normale Nachmittagsbetrieb, der hier nicht Latte-macchiato-, sondern Bierausschank heißt. Mancher mag auch Schnaps mit Kaffee als Zugabe, aber filterlos und ohne Schnickschnack.
    Liebig ist fast täglich hier, Alex gelegentlich, Aki selten, ich praktisch nie, jedenfalls nicht unter meinem bürgerlichen Namen Annja Kobe. Heute bin ich als Danielle Schneider anwesend, Danielle Schneider in Liquidation allerdings. Ich nehme die Gelegenheit wahr, mich unter den inzwischen am ersten Schnaps nuckelnden Damen umzusehen, ob nicht vielleicht eine darunter ist, die mir einen Gefallen tun könnte, ohne großen Einsatz, sie müsste mir nur ihren Personalausweis schenken. Aber keine der Frauen hat auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit mir. Sie sind entweder klein, dunkelhaarig und mit dicken Nasen oder von auffälliger Schönheit.
    Alex hat mir vorhin beim Verlassen des Friedhofs abgeraten, mit hierherzukommen. Zu gefährlich, auch wenn ich mich noch so gut tarnte mit Perücke und Sonnenbrille. Beerdigungen seien nun

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