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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Heidengeld mit verdienen.« Viola ist erstaunt, dass Ulfi so lange Sätze
bilden kann. Dann sitzen sie wieder schweigend da und schauen den Männern zu.
    » Vor zwei Tagen sollte ja schon einmal einer Ihrer Kollegen bei uns übernachten, aber der ist dann abgesprungen, wegen der Kinder, nehme ich an. Er hat da so etwas angedeutet.« Melanie sagt das keineswegs mit einem beleidigten Unterton, eher scheint ihr dieser Grund völlig abwegig zu sein. Viola kommt nicht dazu, den Sachverhalt zu klären, der Kollege hat Ärger mit seiner eifersüchtigen Freundin bekommen, denn Ulfi schreit: »Achtung, Entscheidung!« Der blond gelockte Kämpfer schmeißt den Kontrahenten gegen die Seile, dass der zurückschnellt und beim nächsten, schief geratenen Rückwärtsgang in den Zuschauerraum fliegt, dann schreitet der momentane Sieger entschlossenen Schrittes aus dem Ring und durch die Halle ins Freie, sein geschlagener Sparringspartner hinterher. »Es gibt eine Wrestlingform, da werden die Seile durch Stacheldraht ersetzt«, sagt Ulfi und hat ein Leuchten in den Augen. Das Brüllen der Menge in der Halle schwillt an.
    Dann kommt Werbung. Die beiden drehen Viola ihre Gesichter zu. Sie sehen einander ähnlich, denkt Viola. Aber vielleicht liegt das auch nur an den identischen Jogginganzügen. Im Licht der Mattscheibe wirken ihre Gesichter teigig, die Haut erschöpft. Vielleicht sind die Kinder anstrengend. »Vielen Dank, dass ich bei Ihnen übernachten darf«, sagt Viola. Sie muss dabei ihre Stimme heben, denn im Fernseher singt eine Frau eine Werbebotschaft für Haartönung. »Das ist doch selbstverständlich, wenn Sie keine Unterkunft haben. Sie müssen leider hier auf dem Fernsehsofa schlafen. Eigentlich haben wir ein Gästezimmer, aber gestern ist Ulfis Cousine Hals über Kopf nach Berlin gekommen, was Ulfi?« Ulfi nickt, trinkt aus einer Zwei-Liter-Cola-Flasche und wendet den Blick wieder der Mattscheibe zu. Es läuft jetzt eine Werbung für ein hochprozentiges alkoholisches Getränk. Sechs Leute wiegen ihre Hüften unter Palmen. »Sie hat ihr zwei Monate altes Baby und ihren Mann mitgebracht. Der ist aus der Türkei und kann kein Wort Deutsch. So ’n bisschen ’n Hinterwäldler. Haben Sie Hunger? Wir haben extra was aufgehoben von den
Spaghetti.« Melanie hat sich bei diesem Satz schon halb aus dem Sessel erhoben. »Danke, ich habe schon gegessen.« Und nach einer Pause: »Ich dachte immer, dass sich nur Männer ihre Ehefrauen aus der Türkei kommen lassen.« – »Ach, der ist ganz nett. Um acht geht er zu seinem Deutschkurs, deswegen wird’s wahrscheinlich morgen früh etwas unruhig. Er muss ja leider durchs Wohnzimmer, um ins Bad zu kommen.« Letzte Gelegenheit, denkt Viola, jetzt aufzustehen und zu sagen: Ich mache Ihnen nur Umstände, ich fahr mal lieber wieder. Stattdessen fragt sie: »Spricht denn Ihre Cousine Türkisch?« – »Die ist ’ne Halbtürkin, aber in Deutschland aufgewachsen, was, Ulfi?« Ulfi nickt. Er scheint nicht viel zu sprechen. »Ich hab ihr gesagt: >Der kann sich nicht weigern, die Sprache zu lernen. Sonst haste den Kerl ständig am Hacken.< Hat die Cousine auch eingesehen, und da haben wir ihn gezwungen, ansonsten kriegt er die Scheidung.« – »Und jetzt machen sie Urlaub in Berlin?« – »I wo, die haben es in Lehrte nicht ausgehalten und sind nach Berlin gezogen. Ich find das auch nicht gut, aber ich konnte die doch nicht auf der Straße sitzen lassen. Jetzt müssen sie ’ne Wohnung finden, ewig geht das nicht zusammen. « – »Sind Sie auch aus Lehrte?« – »Ulfi und ich sind aus Peine. Ulfi hat voriges Jahr seine Arbeit als Dreher verloren, und da sind wir mit den Kindern nach Berlin. Wir haben gedacht, in so einer großen Stadt gibt es bestimmt genug Arbeit. Wenigstens für Ulfi. Fünfzehn Bewerbungen habe ich in dieser Woche für ihn geschrieben. Im letzten Monat waren es sechsunddreißig. Aber glauben Sie, da antwortet überhaupt mal einer? Nicht mal das. Es muss ja keine schöne Arbeit sein. Nur eben Arbeit.«
    Viola will fragen, was Melanie gelernt hat, aber die steht auf und verlässt das Zimmer. Unter dem Jogginganzug wirkt ihre Figur ausladend. Sie muss aufpassen, dass sie nicht bald so breit wie groß ist, denkt Viola, und im selben Moment, was geht mich das an?
    Der Mann ist still, starrt weiter auf den Bildschirm, wo gerade Klingeltöne angeboten werden, und rutscht dabei ans äußerste Ende des Sofas, so als wäre es ihm körperlich unangenehm, dass
eine Fremde hier sitzt.

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