Walpurgistag
Sportsachen bemühen«, sagt Heike und denkt mal wieder über das Paradoxon nach, dass Kinder, die von ihren Eltern ganz besonders schlecht behandelt werden, oft am meisten an ihnen hängen und dass das arme Kind dafür nichts kann und auch im nächsten Schuljahr noch kein Sportzeug haben wird, wenn nicht jemand anderer für Ersatz sorgt, sie zum Beispiel. »Soll ich die Mutti mal anrufen und ihr sagen, dass du nicht ohne Sportzeug kommen kannst?« – »Unser Telefon geht gerade nicht.« Früher konnte man die Eltern noch über das Festnetz erreichen, aber bei den meisten ist es inzwischen abgestellt, und sie behelfen sich mit Prepaid-Handys, deren Nummern dauernd wechseln, was besonders dann ein Riesenproblem ist, wenn ein Kind einen Unfall hat und man den Eltern nicht Bescheid sagen kann. »O. k., dann zieh mal die Hose und den Schlüpfer aus, die weichen wir gleich ein.« Heidi schaut sie mit großen Augen an und steht völlig starr. Ganz sicher hat sie heute Morgen nichts anderes als diese Hose gefunden, eine labbrige rosa Jogginghose, die viel zu klein ist. Sie reicht gerade bis zu den Waden. Heike muss an ihre Mutter denken, die immer gesagt hat: »Jeden Tag ein frischer Schlüpfer, es kann doch sein, dass du einen Unfall hast und ins Krankenhaus musst.« Irgendwann war Heike aufgegangen, dass bei einem Unfall die Unterwäsche wohl das geringste Problem sein würde. »Nun mach schon, ich muss wieder raus zur Aufsicht.« Heidis Augen glitzern, das Glitzern läuft über. »Tut mir leid«, sagt Heike, »war nicht so gemeint.« Aber deswegen heult Heidi nicht. Ganz langsam zieht sie die Hose aus. Die hat im Zwickel ein riesiges Loch. Einen Schlüpfer hat Heidi nicht an. »Nein«, flüstert Heike, dann sagt sie laut: »Lass an und warte hier, ich geh zur Hausmeisterin und guck mal, was ich finden kann. Mensch, hast du nicht gemerkt, dass du da ein Loch hast? Da kann dir doch jeder reingucken.« Heidi zieht langsam die Hose wieder hoch. Das Gummiband ist ausgeleiert. Das Wort Schnellfickerhose kommt Heike in den
Sinn. Sie findet es unangemessen angesichts dieses unglücklichen Kindes, das gar nicht weiß, was ihm da passiert. Micha hat das Wort mal mitgebracht von einer seiner Gasablesetouren, und sie haben einen Abend lang darüber gelacht.
Als Heike nach fünf Minuten wieder da ist, hockt Heidi zusammengesunken bei den Waschbecken, und man kann durch den Riss ihre Schamlippen sehen. Heike hat im Schrank der vergessenen Sachen, wie die Hausmeisterin ihn etwas umständlich nennt, eine alte Badehose gefunden, eine verschossene dunkelblaue Jogginghose mit einem Loch, aber zum Glück am Knie, und einen groß geblümten Rock, der aus der Mode ist. Besser als gar nichts. »So, jetzt aber fix die Hose runter.« Heike hält ihr die Badehose hin. Heidi zögert, nimmt sie nicht, heult schon wieder. »Was ist denn nun?«
»Meine Mutti haut mich, wenn ich mit den Sachen ankomme. Die sind hässlich.« Heike Trepte beißt sich auf die Zunge, um nicht irgendwas zu sagen, was sie später bereut. Eigentlich wäre die Familie ein Fall für das Jugendamt. Denn es gibt ja noch die drei anderen, die Kleinen, für die Heidi die Verantwortung trägt, weswegen sie immer so unausgeschlafen ist, dass sie spätestens in der zweiten Stunde dem Stoff nicht mehr folgen kann und manchmal einfach einschläft. Dabei muss das Malheur wohl auch passiert sein. Das Jugendamt hat abgewinkt. Kein akuter Hilfsbedarf. Schlimmere Fälle. Nicht genug Personal. Wenn sie in Zehlendorf wären. Aber sie sind in Neukölln. Blabla.
»Du ziehst die Sachen jetzt an. Und wenn deine Mutter ein Problem hat, dann komme ich gerne mal zu euch nach Hause. Das sagst du ihr, klar? Du kannst nichts dafür, hörst du, aber du kannst auch nicht mit einer nassen Hose mit Loch zwischen den Beinen herumlaufen. Also los.« Widerwillig zieht Heidi die Badehose an. Dann die Jogginghose und den Rock. Die rosa Hose liegt vor ihr auf den Kacheln. Den Riss im Schritt wird Heidis Mutter nie und nimmer nähen, weil ihre Hand vom vielen Alkohol nicht mehr ruhig genug ist, um den Faden in das Nadelöhr zu fädeln.
Heike schickt Heidi auf den Hof, nimmt die Seife und wäscht den Urin unter dem fließenden kalten Wasser aus der Hose. Dann geht sie ins Lehrerzimmer und holt ihr Nähzeug aus der Handtasche. Während der Aufsicht näht sie den Riss an Heidis Hose zu. Die sitzt schon wieder auf dem Klettergerüst und hat ihr Weinen längst vergessen.
14.25 Uhr
Hosch verlässt den
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