Walpurgistag
schnell<, schrieb einer, als die Cholera auf dem Höhepunkt war. Am 19. Oktober 1831 gab der Herr von Bärensprung, der in der Nähe des Alexanderplatzes wohnte, eine Abendgesellschaft. Man aß und trank und saß bis 11 Uhr nachts, ohne über die Cholera gesprochen zu haben. Die Gäste verließen um Mitternacht das Haus bei klarstem Mondschein, der der Stadt etwas ungemein Friedliches gab. Dann aber kreuzte auf dem Alexanderplatz ein Choleraleichenzug ihren Weg. Ein Mann löste sich aus dem Leichenzug, taumelte auf die Abendgesellschaft zu und brach vor ihr zusammen. Die Leute stoben auseinander, keiner wollte ihn berühren, aber schnell merkten sie, dass er sich aus Angst vor der Krankheit in den Alkohol geflüchtet hatte. Als sich einer der Gäste, der einen schwarzen Mantel trug, über den Betrunkenen beugte, schrie der: >Weg, du oller Schwarzmantel. <« Die Studenten lachen. »Leider hat es dabei auch unseren guten Hegel hinweggerafft. Aber was Gutes hat die Cholera. Wo sie ist, kann die Pest nicht sein. Lassen Sie uns jetzt am S-Bahngraben entlanggehen, dort erzähle ich Ihnen von den Seuchenlazaretten. Dahinter verbirgt sich auch die Geschichte der berühmten Charité, die wohl jeder von Ihnen kennt.« Die Studenten schlurfen um den Brunnen. »Der hieß früher, beinahe hätte ich >zu meiner Zeit< gesagt, im Volksmund Nuttenbrosche. Während Telespargel für Fernsehturm eine Erfindung der Funktionäre war. Aber das nur nebenbei. Bitte, meine Herrschaften, hier entlang.« Bevor er geht, bleibt er vor Helga stehen und schaut sie eindringlich an. »Sie kommen mir bekannt vor. Aber woher? Helfen Sie mir. Vielleicht von der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität? Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie immer sehr laut gelacht haben. Ich habe aber leider Ihren Namen vergessen.« – »Ich auch«, sagt Helga, »aber macht nichts.
Das Lachen ist mir auch vergangen.« – »Nichts für ungut, war nur eine Frage, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Der Mann im Kuhfellmantel hebt kurz die Hand zum Gruß und wendet sich ab, um seinen Studenten zu folgen.
»Der hält dich für eine Obdachlose, eine Abgestürzte. Ja, der Tod reitet furchtbar schnell, und was wir sehen, ist oft nicht die Wirklichkeit«, sage ich und stecke den Mann im Kuhfellmantel, ohne dass es Helga bemerkt, in meinen Rucksack. Helga hängt ihren Gedanken nach und kämmt sich dabei ihre Haare mit den Fingern.
14.16 Uhr
Heike Trepte wechselt eine Hose, und ein kleines Mädchen weint
»Guck mal, hat die Heidi da schon ein Problem?« Die Kollegin, die mit Heike Aufsicht auf dem Spielplatz hat, zeigt auf das Mädchen in der rosa Jogginghose, das gerade auf der obersten Stufe des Klettergerüstes steht. Zwischen den Beinen des Mädchens ist ein großer dunkler Fleck, der an den Rändern dunkler ist. »Das kann eigentlich nicht sein, die ist doch erst zehn.« – » Wer weiß, ich hatte mal eine, die hat schon mit neun ihre Regel gekriegt. Die wusste gar nicht, wie ihr geschah. Die dachte, jemand hat sie in der Nacht schlachten wollen.« – »Ich werde mal mit Heidi auf die Toilette gehen. Bin gleich wieder da.«
Heike Trepte nimmt das Mädchen, das erschrickt, als es angesprochen wird, an die Hand und geht mit ihm ins Haus. Offenbar ist die Toilette heute der Ort meiner Bestimmung, denkt Heike und schiebt das Mädchen ins Licht. Blut ist das nicht. »Sag mal, hast du eingepullert?« Heidi guckt auf die Fliesen. »Passiert dir das öfter?« – »Nur manchmal.« – »Und deine Mutti, war die mit dir deswegen schon mal beim Arzt?« Heidi schweigt weiter, Blick nach unten. Heike weiß, dass die Frage müßig ist. Heidis Mutter ist vom Alkohol so aufgedunsen, dass sie kaum noch aus dem Haus gehen kann, höchstens zum Supermarkt, um neuen Schnaps zu kaufen, weil Heidi nichts mehr kriegt, seitdem die Klassenlehrerin jeden einzelnen Laden im Umkreis von fünfhundert Metern abgeklappert und den Ladenbesitzern gedroht hat, sie anzuzeigen, wenn sie den Kindern weiterhin Schnaps verkaufen. »Dann hol mal deine Sportsachen, dann ziehst du die eben an.« Heidi druckst. » Wo hast du denn deinen Turnbeutel? Wollen wir mal nachsehen im Klassenraum?« – »Verlor’n«, sagt Heidi. »Und in welchen Sachen hast du dann heute geturnt?« – »Herr Krampe hat
gesagt, dass ich in Hemd und Schlüpfer turnen muss, aber meine Mama will das nicht.« – »Und dann hast du nicht geturnt.« – »Nein.« – »Na, klasse, dann muss deine Mama sich eben um neue
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