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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Menzinger: Kuh, die! Na, mein süßer Stalin, wollen wir Gassi gehen? Na, hopp.
    (Frau Menzinger holt die Leine aus der Abstellkammer. Dann verlässt sie die Wohnung. nachdem sie noch einen kurzen Augenblick ins Treppenhaus gehorcht hat, ob die Luft rein ist. Alles ist still.)

14.00 Uhr
Die Unbekannte hört dem Mann im Kuhfellmantel zu, der über die Cholera doziert
    »Stell dir vor«, sage ich zu Helga, »du bist eine Frau mit einem künstlichen Herzen und gehst durch Berlin. Es muss komisch sein, denn künstliche Herzen klopfen nicht. Selbst wenn du dich unsterblich verliebst, nichts passiert hinter deiner Brust.« – »Kann man sich mit einem künstlichen Herzen verlieben?« – »Ich nehme an, es ist abträglicher für das Verliebtsein, kein Hirn zu haben. Kommt noch dazu, dass der Akku deines künstlichen Herzens nur drei Stunden hält, dann muss dein Herz wieder ans Netz. Das ist so wie mit dem Handy, nur unter verschärften Bedingungen. In ICEs der älteren Generation, in denen es keine Steckdosen in den Großraumwagen gibt, kann es dir zum Beispiel passieren, dass du auf der Bordtoilette verharren musst, bis der Akku aufgeladen ist. Natürlich möchtest du wieder ein echtes Herz haben. Du schaust jedem Passanten in die Augen, vor allen Dingen denen, die bei Rot über breite Straßen gehen oder vor Doppelstockbussen her Fahrrad fahren. Vielleicht legt dir einer im nächsten Moment sein Organ zu Füßen. Dann wird man dich anpiepen, denn du stehst ganz oben auf der Liste.« – »Erinnerung wäre mir lieber, ganz gleich, welche«, sagt Helga. Wir nennen sie jetzt alle so, auch sie sich selbst. Sie hat beiläufig erwähnt, dass sie den Namen schon oft gehört hat. Wahrscheinlich heißt ihre Mutter so, wie die gefühlte Hälfte der Frauen dieser Generation.
    Seit zehn Minuten sitzen wir auf den Stufen vor dem Forum Hotel Alexanderplatz, das früher das Interhotel Stadt Berlin war. Morgen wird es vielleicht Palast oder Plaza heißen, wer weiß das schon so genau.

    Helgas Erinnerungen halten sich versteckt, irgendwo da draußen. Als hätten sie sich verabschiedet aus der Frau und sie als ratlose Hülle zurückgelassen. Ich habe sie jetzt ein paar Stunden über, um und unter dem Platz hin- und hergehen lassen, sie musste in der Menge untertauchen, Leuten nachgehen, ihre Gespräche mitschreiben und sie ansprechen. Sie ist bis Unter den Linden gekommen, aber niemand hat sie erkannt. Sie sagt, dass ihr die Universität bekannt vorkommt. Vielleicht aber ist es auch nur der Gingkobaum davor.
    » Wem bist du zuletzt hinterhergelaufen?« – »Dem Mann im Kuhfellmantel. Ja, wirklich, ein Kuhfell, echt, ich hab es angefasst. Er hatte ein lustiges Gesicht, das leider zur Hälfte mit einer gänzlich unmodernen Brille bedeckt ist. Er ist mir in der Uni aufgefallen. Ach, sieh mal, da vorn ist er ja. Er macht nämlich einen Stadtrundgang, sein Thema sind Seuchen.«
    Der Mann im Kuhfellmantel läuft ein wenig vorgebeugt, als zöge ihn etwas zu Boden. Ihm folgt eine Gruppe junger Leute mit Wasserflaschen und Rucksäcken. Einige halten Kladden, in die sie etwas notieren. Wir gehen der Gruppe nach, besser gesagt, Helga zieht mich hin. Ich weiß nicht, warum so etwas wie Eifersucht in mir aufsteigt.
    Der Mann im Kuhfellmantel bleibt vor dem Brunnen neben dem Kaufhaus stehen, wo sich die Studenten sehr langsam um ihn scharen. » Wie Sie sicherlich wissen, wurde der Platz nach dem Zaren Alexander benannt, der 1805 nach Preußen kam. Sechsundzwanzig Jahre später kam wieder ein Gast aus dem Osten und hielt sich auf dem Alexanderplatz auf. Ein Gast, der allerdings mehr Angst und Schrecken verbreitete als der russische Zar – die asiatische Cholera. Manche Leute hatten solche Angst, dass sie sich in ihre Stuben einschlossen, die Ritzen verstopften und die Lebensmittel an Bindfäden durchs Fenster zogen. Einige von ihnen schwitzten Tag und Nacht in Essigdämpfen und Chlorduft. Nichtsdestoweniger hat die Seuche den Weg zu ihnen gefunden, während sie andere verschonte, die sich offen und frei jeder Gefahr aussetzten.« – welche Symptome hatte denn die Cholera?«, fragt
Helga von hinten. »Sie wurde auch Brechruhr genannt. Ein sprechender Name. Hinzu gesellten sich noch schlimmste Krämpfe, das Gesicht wurde gelb, die Lippen blau. Der Anblick der Toten war grausig, ihre Haut nahm eine schwärzliche Färbung an, und während die Verkrampfung ihren Gesichtern etwas Lebendiges gab, sahen die Kranken wie Tote aus. >Der Tod reitet furchtbar

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