Walpurgistag
Schmerzen Platz. Der Tumor in seinem Kopf drückte, und der degenerierte Leberfleck an seinem Hintern fing an zu schmerzen, ein sicheres Zeichen, dass der Hautkrebs in einem späten Stadium war. Leider konnte er den Zustand des Leberflecks nicht selbst in Augenschein nehmen und musste einen Dermatologen zurate ziehen. Es war kein Krebs, auch die zweihundertfünfzig anderen Leberflecke auf seiner Haut waren völlig in Ordnung.
Ärzte und Schwestern sind sehr unfreundlich, wenn nicht sogar persönlich beleidigt, wenn einer nichts hat. Deshalb ist Hosch inzwischen vorsichtig mit Arztbesuchen und wartet nach jedem Krankheitsausbruch darauf, auf der Straße umzufallen und mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren zu werden. Aber er ist noch nie umgefallen, sieht man mal von der Bewusstlosigkeit ab, die ihn vorhin vor der Charité befiel, nachdem er den Simulationspatienten abgesetzt hatte.
Das Wort Simulant hatte er zum ersten Mal von seiner Mutter gehört. Er hatte gleich nachgeschaut, das Wort im Inhaltsverzeichnis des Gesundheitsbuches aber nicht gefunden. Dem und seiner Langeweile als Einzelkind verdankte er seine Liebe zu Krankheiten. Denn das Buch über Kinderkrankheiten war das dickste im Haushalt seiner Eltern und übte eine magische Anziehung auf ihn aus. Mit ihm und den darin beschriebenen rätselhaften Krankheiten hatte Hosch Lesen gelernt. Beim ersten Mal hatte er spontan die Seite mit den Wurmkrankheiten aufgeschlagen und fasziniert einen Spulwurm angesehen, der sich, glaubte man dem Buch, im
Darm eines Kindes sehr wohlfühlte. Hosch lief es kalt den Rücken hinunter. War er nicht eine Woche zuvor von einem vierschrötigen, aber kaum sechsjährigen Kerl gezwungen worden, einen Regenwurm aufzuessen? Und dieser fünfzehn Zentimeter lange Wurm lebte nun in seinem Darm und trieb dort sein Unwesen, indem er alles auffraß, was sich Hosch in den Mund steckte, und immer fetter wurde und Kinder bekam, die durch Hoschs ganzen Körper wanderten und eines Tages, weil sie keinen Platz mehr hatten, aus Nase, Ohren und Poloch kriechen würden. Hosch antwortete darauf mit den im Buch angegebenen Symptomen. Die Mutter schleifte ihn zum Hausarzt, aber der sah ihn nur an und meinte: »Der Junge wächst nur.« Hosch war beleidigt.
Er findet sein Auto hinter einer Polizeiwanne, kaum dreißig Meter entfernt, steigt ein und fährt los, Richtung Innenstadt. Als er in der Brunnenstraße ist, macht er das Taxilicht an. Er kann sich Verdienstausfall nicht leisten. Bisher war jede seiner Krankheiten eingebildet und bei genauerem Hinsehen auch diese. Was war denn schon passiert? Er war aus der Horizontalen gegen eine Heizung geknallt. Na und?
Mit sechzehn hatte ihn die Tollwut ereilt. Er war beim Fußballspielen von einem Hund gebissen worden. Es hatte kurz geschmerzt, der kleine Rehpinscher war weggerannt, und er hatte weitergespielt, aber abends im Bett war ihm plötzlich sehr heiß geworden, und er war ins Wohnzimmer geschlichen und hatte sich das Gesundheitsbuch geholt. Er wusste auch schon, wo er nachschauen musste: Tollwut! Tollwut stand im Inhaltsverzeichnis unter Toilettenfahrplan, daran erinnert er sich trotz der Straßenarbeiter, die um seinen Kopf herumstehen, noch heute. Kopfschmerzen, Verstimmungen und Angstzustände, damit würde es beginnen. Er hatte sich schon seit dem Nachmittag gefragt, woher diese Mischung aus Wut und Angst kam, dazu noch die Kopfschmerzen. Leider stand da auch, dass die einzige lebensrettende Behandlung in der sofortigen Impfung bestand. Sobald das Virus das Gehirn erreicht habe, und das dauere nach einem Biss nur ein paar Stunden, sei es zu spät und der Befallene todgeweiht.
Er hätte sofort losgehen müssen, um sich die Spritzen unter die Bauchdecke setzen zu lassen. Aber davor hatte er noch mehr Angst. Denn er würde die Spritzen in jedem Fall bekommen, auch wenn er den tollwütigen Hund nicht vorweisen konnte. Außerdem konnte er seine Mutter nicht einweihen, die war noch sauer wegen der letzten Blinddarmentzündung. Seinen Vater sowieso nicht, er und Hosch taten so, als hätten sie keinen Körper und müssten folglich auch nicht darüber sprechen. Diesmal also war er in eine Partie russisches Roulette geraten.
Am anderen Morgen wachte er auf, und die Angst hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Ihm blieben laut Mutters Gesundheitsbuch noch zwanzig bis sechzig Tage. Dann würde die Krankheit unweigerlich innerhalb von zwei bis zehn Tagen zum Tode führen. Hosch nahm an, dass er bis dahin sowieso
Weitere Kostenlose Bücher