Walpurgistag
vor Angst gestorben sei. Das angekündigte Fieber blieb aus, was aber nicht unbedingt gegen die Krankheit sprach, die nächsten sechzehn Tage verliefen ruhig. Aber in der Nacht des zwanzigsten Tages spürte er, wie sich die Lähmung vom Unterschenkel an über die Wirbelsäule zu den Hirnnerven im Hinterkopf ausbreitete, bis er wie ein Käfer im Bett lag und nicht einmal mehr schlucken konnte. Es war so weit. Er würde innerhalb der nächsten Tage sterben. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte am nächsten Morgen Simone in der Hofpause, ob sie mit ihm gehen wolle. Er war nicht gewillt, als Jungfrau von dieser Erde zu gehen. Simone sagte nicht Nein, und schon am Abend spürte er ihre Zunge in seinem Mund. Als aber seine Hand an ihrem Körper nach unten wanderte, machte sie sich los und sagte, sie brauche noch Zeit. Die hatte Hosch nicht, und so setzte er sich am nächsten Tag in der Pause auf Reginas Schoß. Die galt unter den Mitschülern als Schlampe, die es mit jedem machte. An Hosch aber hatte sie kein Interesse. »Lass dir erst mal einen Bart wachsen«, sagte sie und stieß ihn weg. Blieben nur noch die Professionellen. Er klaute seiner Mutter fünfzig Mark aus dem Portemonnaie und fuhr zum Bahnhof Zoo, wo das Geld nur für eine ältere, schon etwas müde Hure reichte. Er war schrecklich enttäuscht, und zu allem Überfluss hatte die
Mutter den Diebstahl bemerkt. Irgendwann hörten die Symptome einfach auf, und Simone wurde seine feste Freundin, bis Hosch sich einbildete, HIV-positiv zu sein. Aber das war so peinlich, dass er gar nicht daran denken will.
Vielleicht ist seine jetzige Frau Reporterin in Krisengebieten geworden, um ihm Tag für Tag aufs Neue zu zeigen, wie man sich klaglos in reale Gefahr bringt. Hosch kann die künftige Reiseroute seiner Frau locker anhand der Drohgebärden des amerikanischen Präsidenten voraussagen. Er hätte eigentlich froh sein müssen, dass ihm hier, mitten im vertrauten Großstadtdschungel, endlich etwas Schlimmes passiert ist. Man muss nicht nach Afghanistan.
Jetzt spürt er wieder die Taubheit in beiden Daumengelenken. Also doch ALS. Die Krankheit hat er fast vergessen.
Erst als er im Rückspiegel einen Mann sieht, der ihm einen Stinkefinger zeigt, merkt Hosch, dass er einen potenziellen Fahrgast übersehen hat. Vor Schreck fährt er an der Veteranenstraße bei Rot über die Ampel und kann gerade noch einem roten Audi ausweichen. Ein Scheißtag. Er macht das Radio an. Der Verkehrsfunk spricht von Stau auf der Avus und Blitzern in der Augsburger-, Lietzow-, Flottwellstraße, Wulfenallee, im Tegeler Weg.
Amyotrophe Lateralsklerose. Inzwischen kann er die Krankheit schon aussprechen, obwohl sie bei ihm von den Symptomen her erst in einer Frühphase ist. Hosch ist durch ein Interview mit einem berühmten deutschen Maler auf dieses seltene Muskelleiden aufmerksam geworden. Was der an Symptomen seiner Krankheit aufgezählt hat, war Hosch auf eine erschreckende Art bekannt vorgekommen. Auch ihn befallen seit Kurzem manchmal diese seltsamen Muskellähmungen. Das Herausstrecken der Zunge ist von einem Zittern begleitet. Und auch die Beinkrämpfe beim Einschlafen deuten auf diese tückische Krankheit hin. Bald würde es zu irreversiblen Muskellähmungen am ganzen Körper kommen. Und wer wird ihn dann die drei bis fünf Jahre Überlebenszeit pflegen, wenn seine Frau aus irgendeinem fernen Krieg im Irak oder Iran berichtet? Die Uhr läuft. Gestern Abend, kurz bevor er sich mit Micha getroffen hat und drei Stunden bevor
er zusammengeschlagen worden ist, konnte er schon nicht mehr schlucken. Aus der Panik haben ihn erst drei Bier befreit.
Den Winker an der Karl-Liebknecht-Straße übersieht er diesmal nicht. Ein groß gewachsener älterer Herr nimmt auf dem Rücksitz Platz. Ein Machtmensch, Hosch sieht das sofort, noch ehe der ein Gespräch auf seinem Handy annimmt, Klingelton Toccata und Fuge von Bach, den auch der Außenminister hat, und sich bei der Person am anderen Ende entschuldigt, dass er zum Termin mit Henry Kissinger einige Minuten zu spät kommt. Hosch fragt sich, ob er das jetzt nur gesagt hat, um einen Taxifahrer zu beeindrucken. Hilton am Gendarmenmarkt ist das Ziel. Vielleicht ist er auch nur ein Hochstapler, der in fünf Minuten die Zeche prellen wird. Vor der Spandauer Straße ein Stau. Auch ohne Bitte seines Kunden fährt Hosch auf die Linksabbiegerspur, fädelt sich an der Ampel wieder auf den Mittelstreifen und spart eine Minute. Hinter der Ruine des
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