Walpurgistag
Benannt nach den jungen Leuten, die Mitte der Achtziger die wegen des kaputten Daches baupolizeilich gesperrte Wohnung neben ihrer aufbrachen, Schüsseln unter die lecken Stellen stellten und ihre Matratzen die vier Treppen hochschleppten. Wie viele Besetzer es waren, kann Gerda Schweickert nicht mehr sagen, denn jeden Tag kam ein anderer junger ungekämmter Mensch aus der Tür. Es ging immer lustig bei ihnen zu, und nie musste Gerda Schweickert ihre Kohlen alleine hochtragen. Aber natürlich war es viel zu laut, und sie gewöhnte sich an, nur noch mit Stöpseln im Ohr zu schlafen, bis sie eines Tages merkte, dass sie die Geräusche der Nebenwohnung auch ohne die Stöpsel nicht mehr hörte. Sie war einfach schwerhörig geworden.
Gerda Schweickert biegt ihr schmerzendes Kreuz gerade und zählt die Kisten. Vier Mietparteien sind noch übrig. Die Messer waren noch nicht dabei. Aber Gerda Schweickert ist müde. Sie braucht heute keine Messer mehr.
»Schluss, ich leg die Beine hoch, bis morgen«, sagt sie zu Rudolf. Sie ist sich sicher, dass er mitgekommen ist. Er spukt als Geist in einem der Kartons herum und schlürft den Sauerstoff weg wie früher seinen Kräutertee. An schlechten Tagen hätte Gerda Schweickert ihn gern ermordet wegen dieses Geräusches.
Sie legt eine Platte von Schostakowitsch auf. Sinfonie Nummer 5. Vom Werden einer Persönlichkeit. Rudolf mochte Schostakowitsch nicht, einzig und allein weil er Russe war. Schlimmer noch, ein Sowjetbürger. Da ging Rudolf die Hutschnur hoch. » Wer Musik liebt, kann Musik nicht hassen«, hat Gerda gesagt, aber Rudolf ließ nicht mit sich reden. Ihre Schwägerin schickte ihr Kopfhörer. Gerda Schweickert gibt sich der Musik hin, mit geschlossenen Augen im Sessel, mit den Kopfhörern auf den Ohren, bis die Geigen protestieren, die dunklen Pauken die Oberhand gewinnen, doch dann setzen sich die Durtöne durch.
» Wir sind hier nicht im Feierabendheim, Frau Schweickert.«
Frau Menzinger ist durch die Wohnungstür gekommen, die Gerda vergessen hat zu schließen. » Was hören wir denn?«, fragt sie und hält sich das Cover vor die Augen. »Ach, Schostakowitsch.« – »Mögen Sie seine Musik?«, fragt Gerda Schweickert. »Ja, sehr«, sagt die Menzinger, und in ihrer Stimme klingt so etwas wie Respekt an. »Kennt ja heute keener von den Jungen mehr. Und wenn Sie fertig sind mit der Fünften und Ihrem Schönheitsnickerchen, dann gehen wir noch mal raus. Frau Köhnke und ick haben beschlossen, dass Sie mitkommen. Und keine Widerrede, so wahr ich Hortnerin war. Wir sind kurz vor sieben bei Ihnen. Wollt ick nur jesagt haben. Ick wärm schon mal den Likör an. Schlehe.«
16.35 Uhr
Sugar und Cakes besuchen Candy im Urban
»Ich hasse Krankenhäuser«, sagt Sugar, »und besonders das Urban. Nur kranke Loser hängen da rum. Hätte man Candy nicht in die Charité einliefern können?« Ihre Highheels klacken auf dem Pflaster des Planufers. Bei jedem dritten Schritt gibt es einen kleinen Hüpfer. » Warum trödelst du so, ich denke, du musst in einer halben Stunde wieder in der Pizzeria sein. Hast du in dem Laden auch diese Scheißschuhe an? Da kriegst du ja Knoten in den Füßen.« Cakes hebt die Augenbrauen wie eine ältere Tante, die ihre pubertierende Nichte nicht mehr versteht. »Meine Sache«, sagt Sugar und läuft noch langsamer. Mit Absicht. Und weil sie Blasen an den Füßen hat. Aber das würde sie nie zugeben. » Was ist eigentlich mit deinem Bruder?« – »Ist in Untersuchungshaft. Zum Glück. Ich hoffe, er bekommt einen Scheißanwalt.« – weiß deine Mutter es schon?« – »Ja, sie hat einen Anruf gekriegt. Und jetzt heult sie ihrem kleinen Gott nach. Der Arme ist ja so unschuldig. Mir egal, spioniert sie mir wenigstens nicht nach.«
Der Landwehrkanal verbreitert sich zu einem Hafenbecken, an dessen Stirnseite ein riesiger, zu einem U geformter Bau thront, der die ganze Breite des Ufers einnimmt. Ein paar Leute sitzen in der Grünanlage vor dem Krankenhaus, in jeder Gruppe ist mindestens einer in Schlafanzug und Bademantel. Meist ist noch irgendwas mit ihnen verbunden, mit ihrem Kopf oder ihren Gliedmaßen. Dazu Krücken, Tropfständer, Rollstühle. Sugar bleibt vor dem Eingang stehen und schaut fasziniert einem Mann in gestreiftem Bademantel zu, der versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, ohne den Tropfständer loszulassen, an dem diverse Beutel mit unterschiedlich farbigen Flüssigkeiten hängen. Sugar identifiziert sie laut und wie ein Kind, das
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