Walpurgistag
Köpfe und starrten auf die Bänke, ohne den Sinn der darin eingekratzten Buchstaben und Zeichnungen zu erfassen. Schließlich ging die Kaderleiterin dazu über, von jedem Einzelnen eine Stellungnahme zu fordern, Reihe für Reihe, Bank für Bank. Manche wanden sich mit nichtssagenden Sätzen heraus, wie sie es gelernt hatten in den Seminaren Politische Ökonomie oder Wissenschaftlicher
Kommunismus. Nur einer behauptete mit fester Stimme, Ilona Kaufmann habe die DDR verraten. Sein Nachbar meinte, es sei schon enttäuschend, schließlich würde der Staat in jeden Einzelnen von ihnen investieren. Zwei flüsterten kaum hörbar, einer fast heiser, dass sie traurig seien und den Schritt nicht verstünden.
Schließlich zeigte die Kaderleiterin auf Viola Karstädt: »Was ist Ihre Haltung dazu?« Viola Karstädt schwieg. Sie, die immer so eine große Klappe hatte, hielt den Mund. Sagte keinen Ton. Dabei war ihre Haltung klar: Sie wollte nicht aus der DDR weg, doch sie verstand jeden, der es nicht mehr aushielt. Aber das hatte sie sich in dem Moment nicht zu sagen getraut. Viola Karstädt hat sich das Schweigen nie verziehen, auch wenn es die Kaderleiterin mehr aufbrachte als jeder Satz, der gesprochen wurde. Viola Karstädt würde jetzt gerne zu Ilona Kaufmann hingehen, um ihr zu erzählen, dass die Kaderleiterin als Einzige ihrer Dozenten nach der Wiedervereinigung von der neuen Universitätsleitung übernommen worden ist. Aber Viola Karstädt traut sich nicht, Ilona anzusprechen. So gut kannte sie sie ja nun auch wieder nicht. Sie hatte nur vier Jahre lang Tag für Tag schräg vor ihr gesessen. Sie erinnert sich, dass Ilona eine der wenigen war, die in Berlin geboren waren. Friedrichshain. Gastwirtstochter.
Viola schaut auf die Uhr und bekommt einen Schreck. Sie muss sich beeilen, wenn sie sich um fünf mit den anderen treffen und vorher noch Jonas das Medikament bringen will. Sie spürt, dass Ilona, wie immer sie nun mit Nachnamen heißt, ihr hinterhersieht. Sie hat sie erkannt. Ganz sicher.
16.19 Uhr
Eine Kellerassel schmeckt Gerda Schweickert wie ein Gebäck namens Madeleine
Was soll sie hier in der Seniorenresidenz Kollwitzplatz? Sie will jetzt sofort nach Hause. Hier riecht es so unlebendig. Eigentlich gar nicht. Nur neu. So wie damals, als sie in den frisch gebauten Kindergarten einzogen und die Kinder anfingen zu kotzen, weil das Holzschutzmittel giftig gewesen war.
Aus einer der noch unausgepackten Kisten kriecht ein Insekt und bewegt sich in Richtung Fußboden. Es macht einen etwas betrunkenen Eindruck. Wahrscheinlich ist es vom abrupten Lichteinfall konfus. Gerda Schweickert setzt die Lesebrille auf und geht näher an die Kiste heran. Es ist eine Kellerassel. Ich wusste gar nicht, dass ich Haustiere habe.
Die Assel krabbelt über das K, das E und schließlich über das erste L.
Warum hat sie der Keller-Kiste eigentlich keinen Namen gegeben? Werden Kellerasseln nicht uralt? Vielleicht war die hier schon im Krieg dabei? Im Keller des Hauses in der Danziger Straße stehen immer noch die Daten der Bombenangriffe an die Decke gekratzt und die Namen derjenigen, die mit dabei gewesen waren. Auch die dreizehn Tage der Schlacht um Berlin vom 20. April bis zum 2. Mai 1945 sind verewigt und die Uhrzeit, als die Russen am 2. den Keller betraten: »18.17 Uhr.«
Gerda Schweickert füllt in der Küche eine Schüssel mit Wasser. Mit einem Löffel fängt sie die Assel ein und wirft sie hinein. »Jetzt bist du tot«, sagt sie. Pustekuchen. Die Assel bewegt sich im Wasser fort. Als Kinder hatten sie es geliebt, Asseln zu quälen. Wenn man sie auf den Rücken drehte und anpiekte, quoll grauer Schleim aus ihren Körpern. Gerda Schweickert hat keinen
Drang, die Assel mit einem Messer zu zerteilen. Außerdem fehlt noch der Karton mit den Messern. Muss die Assel eben ertrinken.
Eigentlich hatten die Möbelpacker versprochen, am Montag noch einmal zu kommen und den Rest auszupacken, aber Gerda Schweickert will es augenblicklich ordentlich. Sie hievt die Kiste mit der Aufschrift »Harrer« vom Stapel. Wie ist sie heute Nacht nur auf die Idee gekommen, die Kartons nach den Mietern ihres Hauses zu benennen? Trudchen Harrer, Erdgeschosswohnung, dunkel und feucht, aber besser als gar nichts.
Was bildete die sich ein, dass sie einen entfernten Verwandten des Tibetreisenden geheiratet hatte! Gerda Schweickert kannte sie schon aus der Zeit vor der großen Arbeitslosigkeit, als sie mit ihren Puppenwagen in den Friedrichshain fuhren, was
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