Walpurgistag
Eissorten aufzählt: »Blut, Urin und
noch was. Weißt du, was das Weiße ist?«, fragt sie Cakes und zeigt auf einen Beutel, dessen Inhalt wie Mehlsoße aussieht. »Eiter, nehme ich an, aber so genau will ich’s gar nicht wissen.« Cakes wendet sich angeekelt ab. » Was glotzt ihr so, Kanakenbräute?«, fragt der Mann und fuchtelt Sugar mit der brennenden Zigarette vor dem Gesicht herum. Alles an seinem Gesicht hängt, selbst die Augenlider. Seine Haut ist von derselben Farbe wie sein verfusselter grauer Bart.
Sugar will sich auf den Mann stürzen, aber Cakes hält sie zurück. »Hey, wir haben eine Mission, von der lassen wir uns doch von so einem Strolch nicht abhalten.« – »Ick war schon in Kreuzberg, da habt ihr noch in Anatolien auf’m Berg jesessen.« – »Wo liegt denn Anatolien?«, fragt Sugar und bindet sich demonstrativ ihr Kopftuch neu. »Noch schlimmer, ’ne Kameltreibertussi, geh nach Hause.« – »Ich bin in diesem Krankenhaus geboren, und du wohnst sogar hier? Glückwunsch, schön hast du’s«, sagt Sugar und schaut sich um. Der Mann will handgreiflich werden, aber der Tropf hindert ihn daran. Die Beutel wackeln bei der abrupten Bewegung. »Pass auf, dass du deine Säfte nicht verlierst, Hilfsnazi«, sagt Cakes und zieht Sugar in den Eingang. »Musst du gleich wieder unangenehm auffallen?« – »Soll ich mir von so ’nem Arschlochrassisten alles gefallen lassen? Hoffentlich hat er Krebs. Am besten Arschkrebs.«
Im Foyer sind die beiden erst einmal ratlos. Es ist groß und unübersichtlich. In der Mitte befindet sich ein Cafe, fast alle Tische sind besetzt. Nirgendwo eine Tafel mit den Stationen, nur neben der Tür gibt es einen Empfangsschalter, hinter dem ein mürrischer Mann sitzt, der gerade beschäftigt ist. Cakes zieht Sugar blitzschnell in den Flur, der zur Notaufnahme führt. » Was hast du denn?«, fragt Sugar. »Candys Eltern. Die dürfen uns nicht sehen. Die stellen doch nur blöde Fragen wegen letzter Nacht.« – » Was sollen die schon wissen?« – »Candy hat mit ihnen telefoniert und gesagt, dass sie mit uns beiden lernt.« Sugar muss lachen: lernen. Wie sagt Frau Trepte immer: »Für das Leben lernt ihr.« Sie lugt um die Ecke. Candys Mutter hat verheulte Augen,
der Vater hält ihr ein Glas Tee vor die Lippen, aber die Frau wehrt ab. »Meine Mutter würde nicht heulen. Die würde noch nicht mal ins Krankenhaus kommen.« Sugar knabbert an ihren Fingernägeln, die schon blutig sind. Cakes haut ihr auf die Finger. »Die Frage ist, wie wir Candy finden.« – Wir können doch den Pförtner fragen.« – »Guck den doch mal an, der schickt uns glatt wieder weg, der guckt so blöde in unsere Richtung.« Aber Cakes hat schon einen jungen Mann in grüner Kleidung angehalten, der ihr vertrauenerweckend erscheint. »Ey, du«, Cakes legt eine weiche, unschuldige Stimme auf, Jungfernstimme nennt sie die, die kommt morgens bei den Kunden immer gut an, »kannst du uns helfen? Wir wollen zu unserer Schwester. Sie hatte einen Unfall.« – »Leicht oder schwer?« – »Intensivstation, hat meine Mutter gesagt.« – »Dann müsst ihr hier rechts am Café vorbei in Richtung der Aufzüge. Dann in den ersten Stock, und folgt den Schildern zur Station zwölf. Das ist die chirurgische Intensiv. « – »Danke.« Cakes schenkt dem Jungen einen schönen Augenaufschlag.
»Klingt irgendwie nach dollen Schmerzen«, sagt Sugar, aber Cakes ist mit ihren Gedanken schon beim Fahrstuhl. »Konzentrier dich mal kurz! Wir müssen uns ducken, wenn wir an dem Café vorbeigehen, damit Candys Eltern uns nicht sehen.« Wie zwei Enten watscheln sie geduckt bis zum Fahrstuhl, wo der junge Mann in Grün mit dem Blut- und Eiter-Rassisten steht. Um weitere Komplikationen zu vermeiden, nehmen die Mädchen die Treppe. Vor Station zwölf beobachten sie, wie ein Mann von einer die Tür öffnenden Schwester gefragt wird, zu wem er denn wolle und ob er ein Angehöriger sei. Der Mann flüstert etwas und wird eingelassen. Die Tür braucht eine Weile, ehe sie zufällt, und Sugar springt geistesgegenwärtig in Richtung des Eingangs, um sie festzuhalten, bevor sie zuschlägt. Die beiden schleichen sich vorsichtig in den Flur. Keine Schwester ist zu sehen. Hinter einer Glasscheibe liegen Menschen, die voller Schläuche sind. Einige der Patienten sind von oben bis unten verbunden. » Wie Mumien«, flüstert Sugar, »wie wollen wir hier Candy finden?« Cakes betritt,
ohne zu zögern, den Raum, geht von einem zum anderen Bett.
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