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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Helga ist plötzlich wie elektrisiert. Alle Müdigkeit fällt augenblicklich von ihr ab. »Kennst du eine der beiden Frauen? Erinnern sie dich an etwas?«, frage ich, aber Helga antwortet nicht. Ich weiß, dass sie gleich aufstehen wird. Die
kräftige Frau redet laut auf die alte ein. Mal deutsch, mal englisch. Die alte Frau spricht mit amerikanischem Akzent. »Kannst du mir etwas über die jüngere Frau sagen?«, fragt Helga mich. »Ich denk mir doch auch nur alles aus«, sage ich. »Aber vielleicht ist das ja die Wahrheit »Krieg es doch selbst heraus. Wenn du etwas erfahren hast, dann komm zurück und erzähl’s mir.« – »Und du wartest hier?« – »Ich bin hier und gehe nicht weg. Wenn du nicht mehr weißt, wo du bist, lass dir den Weg zum Alex beschreiben. « Sie nickt und läuft den Frauen hinterher. Ich folge ihr in angemessenem Abstand.

15.50 Uhr
Viola Karstädt muss zur Apotheke und bekommt ein schlechtes Gewissen
    »Die Einheit ist eine Fiktion, wir leben hier den Schmerz der Differenz«, sagt Viola Karstädt zu der Amerikanerin, auf deren Frage hin, wie sie denn die deutsche Einheit erfahren habe. Als ob man das in der kurzen Zeit, die die U-Bahn von Rosa-Luxemburg-Platz bis Alexanderplatz braucht, erzählen könnte. »Und jetzt kräht Berlin den ganzen Tag: >Ich bin eine Weltstadt.< Das kann einem schon auf die Nerven gehen.« Die beiden treten aus dem U-Bahnschacht auf den Alexanderplatz. »Interesting. Das müssen wir vertiefen. Ich danke herzlich für die Hilfe«, sagt die Frau, »wenn Sie Zeit haben heute Abend, dann kommen Sie. Rufen Sie an der Reception Zimmer 717, und wir werden uns treffen in die Bar. You are welcome. Wir können reden über alte Zeiten. Ich will alles wissen über den Schmerz der Differenz.« – »Es tut mir leid, es wird nicht gehen, mein Kind ist krank, ich bin auf dem Weg zur einzigen Apotheke, die das Medikament vorrätig hat, das mein Sohn braucht. Ich komme heute Abend nicht weg.« Die alte Frau kramt in ihrer Tasche und holt ein Taschenbuch mit einem rostroten, völlig zerfledderten Umschlag heraus. »Hier, das können Sie besser gebrauchen. Ich komme in meinem Leben nicht noch einmal hierher.« Viola Karstädt bleibt kaum Zeit, sich zu bedanken, die alte Frau ist schon in der Drehtür des Forum Hotels und winkt mit ihrem ausgefransten Seidentuch. In Violas Kopf singt eine Frau mit glockenheller Stimme: »Ich bin eine Weltstadt.« Die alte Frau hat ihr einen uralten Berliner Baedeker geschenkt.
    Als sich Viola Karstädt zum Platz hin umdreht, bemerkt sie schräg vor sich eine Frau, die sie kennt. Sie sitzt auf den Stufen vor dem Hotel neben dem Mann, den Viola Robinson getauft hat. Er lebt schon seit Jahren auf dem Alexanderplatz. Er ist Viola
aufgefallen, weil er immer so bei sich zu sein scheint, so grundsätzlich zufrieden mit seinem Leben, dass Viola an manchen Tagen ein schlechtes Gewissen bekommt, weil sie dauernd Bedürfnisse hat, die sie für wichtig hält, die aber weniger dauerhaftes Glück bringen als Geld kosten.
    Es muss inzwischen siebzehn Jahre her sein, dass Viola zuletzt von Ilona Kaufmann gehört hat. Aber hieß sie überhaupt noch so, hatte sie nicht damals geheiratet, kurz bevor sie abhaute, einfach so, über Nacht?
    Die Frau auf den Stufen sieht ganz und gar nicht aus, als wäre sie ganz bei sich. Sie wirkt seltsam zerrupft, dabei war sie damals in der Seminargruppe die Einzige, die sich schminkte und morgens wie aus dem Ei gepellt zu den Vorlesungen kam. Sie ist von seltsamer Blässe, vielleicht lebt sie auf der Straße. Mit Robinson ist sie offenbar gut bekannt, denn sie sind miteinander ins Gespräch vertieft.
    Plötzlich dreht sie den Kopf in Violas Richtung. Ihr bis eben noch weich, fast teigig aussehendes Gesicht erstarrt. Sie dreht es gleich wieder weg. Das versetzt Viola Karstädt einen Stich in der Herzgegend. Hat sie sie erkannt? Sie muss sofort an jenen entsetzlichen Nachmittag in der Uni denken, als durchgesickert war, dass Ilona Kaufmann sich in Westberlin befand, und keiner wusste, wie sie dahin gekommen war. Zwei oder drei Leute aus der Seminargruppe, die näher mit ihr bekannt gewesen waren, hatte die Staatssicherheit in die Mangel genommen, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand. Keiner traute sich, sich auf Ilonas Platz zu setzen. Kurz darauf gab es eine außerordentliche Versammlung mit der Kaderleiterin der Sektion. Als sie fragte, was sie denn von der Straftat ihrer Kommilitonin hielten, senkten sie kollektiv die

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