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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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gegen die Wand klopfen und die Mutter aus dem Fenster »Arschloch« in den Himmel über der Sophienstraße schreien, worauf die Etepetetefrau aus dem Haus nebenan »Sie betrunkenes Element, ich hole die Polizei« rufen und die Mutter »Blöde Westfotze, geh doch zurück in dein sauberes Schwaben« kreischen wird, sodass auch die anderen Schwaben in der Straße nun die Fenster aufmachen und ihrerseits seine Mutter beschimpfen werden. Und dann stünde auch bald die Polizei vor der Tür ... »Mensch, mach’s mir nicht so schwer.« Wider Erwarten kippt die Stimme der Mutter erst mal nicht ins Hysterische. »Da gibt man sich Tag für Tag Mühe, macht Kompromisse, reißt sich zusammen, weil man ’n Blag hat, und dann schwänzt es die Schule. Willst du auch so werden wie dieser Robert, der mit der Yakuzi um sich geschossen hat?« – »Das war keine Yakuzi, das war eine Pumpgun. Und eine Pistole.« Einen kurzen Moment lang schaut die Mutter ihn sprachlos an. Ihr Gesicht ist aufgedunsen, die Augen sind inmitten der Masse aus Haut und Fett zu kleinen schmalen Schlitzen geschrumpft. »Soll das jetzt ein Witz sein?« Ihre Stimme klingt bedrohlich. »Ich hab echt die Schnauze voll.« Die Mutter hebt die Hand, um ihm ins Gesicht zu schlagen, aber Paul duckt sich geschickt weg, sie verliert das Gleichgewicht und fällt, ohne abzubremsen, auf den Boden. Und jetzt wird sie eben doch hysterisch und stößt einen lang gezogenen, heulenden Schrei aus. Es kommt, wie es Paul befürchtet hat. Der Nachbar klopft schon an die Wand, die Mutter geht zum Fenster, öffnet es mit viel Getöse ...

    Paul wirft die Wohnungstür hinter sich zu und nimmt den Weg über die Mauer im Hof. Er will nicht hören, wie die Mutter die Straße zusammenschreit. Er will sich nicht schon wieder schämen.
    Im vietnamesischen Laden an der Ecke ist noch Licht. Der Mann trägt gerade eine Kiste mit sehr roten Äpfeln in den Laden. Die Auslagen auf dem Gehsteig vor dem Geschäft sind fast abgeräumt. Die Tür steht sperrangelweit offen. Aus dem Schaufenster winkt die große goldene Katze Paul zu und Paul mit steifem Arm zurück, wie er es immer macht, wenn er an ihr vorbeikommt. Mit so einer Winkekatze hat man immer Geld im Haus, hat Klara behauptet. Vielleicht sollte ich die mitnehmen, dann kann ich mir morgen vielleicht die blauen Sneaker mit drei weißen Streifen kaufen. Oder lieber die grünen mit den roten Streifen? Je länger Paul sie ansieht, desto größer wird die Katze. Eigentlich sieht sie aus, als wollte sie zurückschlagen. Paul schleicht ins Geschäft.
    Das vietnamesische Paar sitzt in einem Nebenraum auf Bierkisten und streitet sich laut. Paul hat den Spiegel im Auge, den sie an einem der Regale befestigt haben, um aus dem Lager beobachten zu können, ob jemand die Ware ohne den Umweg über die Kasse gleich in die Tasche steckt. Die Vietnamesen schreien sich Worte ins Gesicht, die in Pauls Ohren klingen, als hätten sie sich die Zunge verbrannt. Nach einem besonders lauten Satz der Frau springt der Mann wutentbrannt auf und rennt, ohne Paul in der Ecke zu bemerken, aus dem Laden. Er kommt aber gleich wieder zurück und knallt der Frau eine Kiste Möhren vor die Füße, dass die obere Reihe aus der Kiste hüpft und über den schmutzigen Fußboden kullert. Die Frau kreischt jetzt in einem hohen Ton und stürzt sich auf den Mann. Mit ihren kleinen Fäusten bearbeitet sie seine Brust, sie spuckt ihn an, er schlägt ihr ins Gesicht.
    Paul dreht sich weg und greift sich in der Drehung blitzschnell eine Flasche Korn aus dem Regal an der Kasse. Er hat das Gefühl, es dauert Minuten, ehe er aus der Tür ist. Die Winkekatze schaut ihn an. Abschätzig. Gefühllos. Sie hat sich das jetzt gemerkt und wird ihn beim nächsten Mal mit ihrem Winkearm erschlagen
oder wenigstens mit den Krallen auf ihn zeigen – der war’s, der hat den Schnaps geklaut.
    Eine große Flasche Nordhäuser Doppelkorn. Das bedeutet Ruhe bis morgen. Paul rennt um die Ecke in die Sophienstraße. Gerade werden drei bis fünf Fenster geräuschvoll geschlossen. Er schleicht über den Hof ins Haus und stellt die Flasche Korn auf den Abtreter vor der Wohnungstür, klingelt Sturm, hört die Mutter im Flur auf die Tür zuschlurfen, dreht sich auf dem Absatz um, rennt aus dem Haus und um die Ecke in die Große Hamburger, am Vietnamesen vorbei, der die Rollläden gerade herunterlässt. Paul heult bis zum Koppenplatz. An der Torstraße zieht er den Rotz hoch und wischt mit dem Ärmel übers Gesicht.

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