Walpurgistag
an seine Frau denken?
20.03 Uhr
Die Frau, die vor einer Minute die Lounge betreten hat, trägt eine dunkle Sonnenbrille, dabei ist es im Raum ziemlich schummrig. Es ist nicht Ina, denn als er sie anspricht, sagt die Frau nur schnippisch: »So einen Nuttennamen hab ich nicht.« Wahrscheinlich heißt Ina auch nicht Ina. Ein Mann fragt sie leise, ob sie vom Escortservice sei. Sie lächelt. Hosch schätzt, dass sie sich Marie nennt.
20.05 Uhr
Hosch hat sich genug akklimatisiert, das Bierglas ist auch fast leer. Von hinten schleicht sich der Kopfschmerz wieder an. Jetzt könnte die Dame mit dem falschen Namen aber mal kommen. Von seinem Barhocker aus hat er das ganze Lokal, den Eingang und sogar den Kurfürstendamm im Blick. Außer der Frau mit der Sonnenbrille sind bis jetzt nur Paare oder Männer ohne Begleitung hereingekommen. Zehn Minuten gibt er sich noch. Fußballgucken ist ja vielleicht auch eine gute Alternative. Er nimmt noch ein Bier und spült eine weitere Tablette damit hinunter.
20.09 Uhr
Hosch fragt sich, ob die Frau vielleicht im Cafe sitzt und er sie übersehen hat, als sie reinkam. Er geht durch die Kassenhalle ins Café. Es gibt dort keine Frau in Erwartung. Die hinterm Tresen wird es ja nicht sein. Vielleicht sollte er hierbleiben und sich eine Tänzerin anlachen beim Tanz in den Mai. Aber im Moment findet er das alles viel zu anstrengend. Er schreibt eine SMS an Ina: »Wo bist du?«
20.15 Uhr
Eine Antwort trifft ein: »Das Gleiche könnte ich dich fragen. Hier hat nämlich alles zu, und ich warte schon fünfzehn Minuten vor dem Theater. Ina.«
Hosch zahlt und umrundet die Schaubühne, aber nirgendwo steht eine wartende Frau. Seine Antwort ist: »Wo ist denn dein Theater?« Da aber keine SMS mehr kommt, beschließt er zu gehen. Auf dem Weg fragt er sich, wo er die Champions League gucken möchte. Er kommt vorerst zu keinem Ergebnis. Der Schmerz macht sich in der Mitte des Kopfes breit.
20.10 Uhr
Katrin Manzke verpasst ihr Blind Date, oder ist es ganz anders?
Plötzlich ist es wieder da, das fast vergessene Gefühl, verliebt zu sein. Das letzte Mal, dass sie es hatte, ist lange her, da war die Stadt noch geteilt. Dabei ist sie doch eigentlich gar nicht verliebt. Sie ist in Erwartung. Und das Herzklopfen kommt, weil sie Angst vor dem Moment hat, da sie auf den Mann trifft, mit dem sie Sex haben wird. Verliebt zu sein, ist etwas Wunderbares. Du läufst neben dem Subjekt der Begierde her, du hast ihn noch nicht einmal berührt, und alles bekommt einen Zauber, die Besoffenen in der S-Bahn, die Kotze, die Kacke, die überquellenden Abfallbehälter, die Obdachlosen mit den Zeitungen. Und du fährst gleich noch drei Haltestellen zu weit mit der S-Bahn, mit Absicht, um ihm nahe zu sein.
Und dann fallen ihr gleich so Sachen ein, dass sie am Sterben ist, im Krankenhaus, aber sie kann noch sprechen, und bei ihm anruft, um sich zu verabschieden, und sagt noch: Komm mich nicht besuchen, es würde mich krank machen, obwohl, krank ist sie ja sowieso, besser: Es würde mich traurig machen, und alles in ihr schreit: Komm trotzdem, auch wenn ich es nicht will, und, April, April, ich sterbe nicht, jedenfalls nicht jetzt gleich, war nur so einer meiner Späße, und am anderen Ende sagt der Begehrte gar nichts mehr, was auch heißen könnte, dass er stumm in sich reinheult ...
Auf was für blöde Gedanken man kommt, wenn man nur ein bisschen Sex will und der Typ die Verabredung nicht einhält. Seit einer Viertelstunde steht sie vor der Schaubude, die zu ist. Ist ja auch ein blöder Vorschlag, sich abends in einem Puppentheater zu treffen. Aber sie kann sich nicht entschließen, ihn anzurufen.
Eine SMS trifft ein: » Wo bist du?« Sie schreibt zurück. Ihr
Handy klingelt. Ihr Herz klopft bis zum Hals. Aber als sie auf das Display sieht, hört das Klopfen schlagartig auf. Die Pizza ist dran, genauer: der Chef. Sie wird mit ihrem Auto gebraucht. Fünf Maxipizzen nach Neukölln, Harzer Straße 24, dritte Etage. Die Adresse solle sie sich gleich mal aufschreiben, Familie Schöller. »Die Pizza geht jetzt in den Ofen. Also beeil dich.«
Da hat ihr wieder einer die Entscheidung abgenommen, wie so oft in ihrem Leben. Katrin Manzke ist ganz froh darüber. Die SMS »Wo ist denn dein Theater?« ignoriert sie. Familie Schöller hat für sie entschieden. Während sie die Storkower Straße hinunterfährt, geht ihr eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Kann es sein, dass wir nach veralteten Sternen greifen?
20.25 Uhr
Liebig
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