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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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er denn gemacht hat, und der Alte sagt, auch wieder so militärisch knapp: >Volksmarine<, und weil mein Freund ein Waffennarr ist, hat er sich mit ihm über die Bewaffnung von Unterseejagdbooten unterhalten und über das gescheiterte U-Bootbauprogramm der Volkswerft, das von den Russen torpediert wurde, über Schrapnelle und ummantelte Munition und so ’n Scheiß, was mich null interessiert. Ick spielte, weil die Atmosphäre mir stank und ick den Moment der absoluten Stille fürchtete, drei Lieder zusätzlich, eins von den Rolling Stones, aber nicht Satisfaction, das wär mir zu blasphemisch vorgekommen. Dann von den Beatles Erdbeerfelder für immer, also auf Deutsch gesungen, und dann noch Ave Maria, aber es war schlimmer als bei einer Beerdigung, ick kriegte die einfach nicht wärmer und traf dann die falsche Tonhöhe, obwohl ick all meinen Schmelz in die Stimme legte, nix passierte. Ick hätte sie kneifen mögen. Mann, war ick froh, als ich da weg war, selbst Alkohol hat die nicht beweglich gemacht. Ick sag aber immer in solchen Situationen, ein Glück, dass ick nicht Cellist geworden bin, wie Oma wollte, sondern schön nur Blockflöte und Harmonium. Ach ja, die Flöte, das wollte ick dir schon immer mal erzählen.« – »Liebig... « – »Ach, komm, eine noch. Weißt du, warum ick in Staatsbürgerkunde eine Fünf hatte?« – »Nein, Liebig, aber jetzt bin ich mal dran. Heut war so ’n kleiner Skateboarder im Abstellraum, hat Papa in der Kühltruhe entdeckt, wegen der offenen Tür. Hätte ich mal bloß nicht auf euch gehört, dass da angeblich niemand reinkommt.« – »Ach, was ich noch vergessen habe, Alex hat uns heut um Mitternacht zum Mauerpark bestellt. Theaterausflug. Kannst dann gleich mal deine Papiere ausprobieren, hat er gesagt. Und mach dir
keine Sorgen, der kleine Typ ist nicht echt. Du weißt schon, sagt Alex.«
    Als wenn mich das beruhigen könnte. Im Bunker war alles einfacher. Und außerdem ist es hier draußen viel zu hell.

20.45 Uhr
Paul bekommt eine Gardinenpredigt gehalten und stiehlt eine Flasche Korn
    » Wo kommst du denn jetzt her?« Die Mutter steht wie angeklebt in der Küchentür, als warte sie dort schon seit Stunden. Haare, Gesicht, Hände, Füße und Overall sind über und über mit weißer und roter Farbe besprenkelt. Das sieht mehr nach Bodypainting als nach Öl auf Leinwand aus. Die Schnapsflasche auf dem Küchentisch ist leer. Die Mutter schwankt nach vorn und will ihn umarmen. Paul wehrt ab. Das macht sie wütend. Sie lallt: »Wo warst du überhaupt den ganzen Tag? Und warum hast du meine Schuhe an? Soll ich bei zehn Grad in Badelatschen zu meinem Galeristen gehn?« Paul weiß, dass die Mutter schon lange keinen Galeristen mehr hat. »Meine Schuhe passen nicht mehr«, sagt Paul kleinlaut. »Gib mir nicht die Schuld daran, dass du wächst. Du weißt genau, dass ich kein Geld für Schuhe hab. Wie soll ich die Miete bezahlen? Die Farbe kostet. Und ohne Farbe keine Bilder. Und ohne Bilder kein Verdienst. Kannst du nicht die Schulturnschuhe anziehen?« Soll er ihr jetzt beichten, dass er wegen der fehlenden Turnschuhe schon seit drei Wochen nicht beim Sportunterricht war? »Ich muss gleich noch mal weg«, sagt er stattdessen, » Klara wartet auf dem Koppenplatz, ich muss ihr ein Buch bringen, das sie heute Abend für einen Vortrag braucht.« – »Du lügst doch«, sagt die Mutter, plötzlich erstaunlich kühl und klar. Ihr Blick fixiert sein Gesicht. »Du warst heute nicht in der Schule, deine Lehrerin hat angerufen. Du warst auch letzte Woche nicht in der Schule und im März drei Tage nicht.« – »Ich war in der Schule«, sagt Paul matt und weiß selbst, dass er gerade wenig überzeugend klingt. » Warum lügst du mich an? Was ist überhaupt los mit dir? Wird das jetzt eine schwere Pubertät? Du wirst es doch wohl mal schaffen, ein paar Stunden mit anderen Menschen
klarzukommen. Und wie steh ich am Ende wieder da? Eine alleinerziehende Künstlerin, die nicht mit ihrem Sohn fertig wird. Ich sag dir, wenn hier noch mal das Jugendamt auf der Matte steht, ich...« Sie bricht ab, aber Paul weiß, dass sie sich den Satz mit dem Kinderheim einfach mal gespart hat. »Deine Haare sehn so scheiße aus. Aber wenigstens habe ich deinen Pferdeschwanz, der in deinem Zimmer herumlag, in ein neues Bild eingebaut. Willst du’s mal sehen?« Paul schweigt, will nur noch weg. Gleich wird sie anfangen zu heulen, ganz laut und klagend wie eine Wolfsmutter, und der Nachbar wird mit dem Besen

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