Walpurgistag
frühestens nach Spielende an. Da sind wir über alle Berge. Und vajiss nich, heut is Randaletag. Da hat die Polizei anderes zu tun.
(Sie haben inzwischen die Ampel überquert und stehen unter den Gleisen der Hochbahn. Es riecht nach Pisse, und es ist düster. Über ihnen donnert eine U-Bahn in den Bahnhof Eberswalder Straße ein, und ein Strom von Leuten ergießt sich die Treppe hinunter auf die Schönhauser Allee.)
Trude: Iss ja mächtig was los heut. Kein Grund, ins Bettchen zu gehen. Wie wär’s mit einer kleinen Flanerie in Richtung Ringbahn? Zum gepflegten Ausnüchtern?
(Die beiden anderen widersprechen nicht und so laufen sie unter dem Magistratsschirm, unter dem sich kein weiterer Mensch außer ihnen
aufhält in Richtung S-Bahnhof Schönhauser Allee. Von hinten sehen sie aus wie drei alte Hexen.)
Trude: Wisst ihr noch, wie hier die janzen Gleise runterhingen? Ilse: Ja, klar, und dann haben se die einjeknickten Pfosten mit Eisenbahnschwellen verstärkt und das Gleis wieder anjehoben. Und weiter ging’s nach Pankow.
Gerda: Das Provisorium, das dann Jahre hielt.
Trude: Unser Leben war ein ewiger Pendelverkehr. Ick kann echt keene Baustellen mehr sehen. Erst Trümmer, dann Baustellen, eewich. Als wär’n wir selbst nur Provisorien.
Ilse: Und ick seh immer noch die Trümmer. Wisst ihr noch, wie hier die Toten lagen, den ganzen Magistratsschirm unten aufgereiht, Leiche an Leiche?
Trude: Ick weeß noch.
Gerda: Ich nicht, ich war im Bötzowviertel. Da lagen die Toten auf dem Arnswalder. War auch nicht schön.
Ilse: Wir haben hier meinen Bruder gesucht. Den hatten sie noch am letzten Tag zum Volkssturm eingezogen. Das war unser Lütter, gerade fünfzehn. Und meine Mutter immer von Jungenleiche zu Jungenleiche. Und immer von hinten am Hals oder in die Haare gefasst, um das Gesicht zu sehen, sie lagen alle mit dem Gesicht nach unten. Von einem zum anderen ist meine Mutter und rechts und links neben ihr andere Mütter. Das sah aus wie beim Rübenverziehen. Keine hat geweint. Es war schrecklich still, zum ersten Mal seit Tagen. Es war der 2. April, und das Schießen hatte aufgehört. Gefunden haben wir ihn nicht. Nie, daran ist meine Mutter kaputtgegangen.
Trude: Ick hab selber jesehen, dass Deutsche den toten Soldaten die Schuhe ausziehen und die Ringe stehlen wollten. Und da sind die Russen zwischenjejangen und haben die weggejagt. Det fand ick anständig von die Russen, ma abjesehen von den Grausamkeiten, die die sich jeleistet haben.
Ilse: Du ooch?
Trude: Ick ooch.
Ilse: Wie ich. Und du, Gerda?
Gerda: Zu uns in den Keller kamen se erst nach dem Waffenstillstand, da stand Plündern und Vergewaltigen schon unter Strafe. Trude: Ick erinner mich noch, det se gleich nach den Endkämpfen im Kino Colosseum auf der Schönhauser ’n Sechzehnjährigen aufjebahrt haben. Den haben se da hinjelegt, weil der so jung war. Und dann sind wir jeden Tach hinjejangen und ham von ’n Sträuchern uff ’n Plätzen die Blüten abjebrochen und neben den Sarg jelegt. Ick mein, mit sechzehn, was wollte der mit dem Krieg?
Ilse: Ich war ja schon am I. Mai die Schönhauser langgekommen. Ich weiß es deshalb so genau, weil ich immer dachte: nationaler Feiertag der Arbeit und heute frei. Es war ja sowieso alles geschlossen. Als der Beschuss kurz aufhörte, wollt ich Wasser holen, an der Pumpe vor der Gethsemanekirche, und komme auf der Schönhauser an einem Laden vorbei. Überall Glassplitter. Jedenfalls war da eine Schaufensterpuppe aus dem Laden gestürzt, wahrscheinlich durch die Wucht einer Granate. Sie war ganz unversehrt, und aus irgendeinem mir heute nicht mehr verständlichen Grund wollte ich sie mitten in dem Chaos zurückstellen an ihren Platz. Aber sie war zu schwer.
Gerda: Warste denn so ’n Hänfling damals?
Ilse: Nee. Das war keine Schaufensterpuppe. Die war echt. Gerda: Wie, eine Frau?
Ilse: Ja, eine Tote. Schön wie eine Schaufensterpuppe, die Haut von derselben alabasternen Farbe. Erst als ich sie umdrehte, habe ich gesehen, dass ihr die Gedärme raushingen.
Trude: Boa, da wird mir schlecht. Wo war ’n das?
Ilse: Ich glaub, bei Leiser, hinter dem Ringbahnhof.
Trude: Leiser war ein Schuhgeschäft, die hatten keine Schaufensterpuppen, die brauchten nur Füße.
Ilse: Dann war’s vielleicht der Kleiderladen an der Ecke Stargarder, da, wo immer die Modellkleider hingen.
Gerda: Ach ja, wie hieß denn der? Da hatte ick mein Konfirmationskleid her.
Ilse: Ich hab’s vergessen.
Gerda: Aber wie sagten wir
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