Walpurgistag
Klara soll nicht sehen, dass er geweint hat.
21.13 Uhr
Micha Trepte geht zwei seiner Lieblingsbeschäftigungen nach
Živković rutscht aus, und Keane hat plötzlich freie Bahn. »Nein«, schreit Micha, »das kann doch nicht wahr sein!« Da ist der Ball schon im Netz, aus spitzem Winkel am grätschenden Sebescen vorbei. Die Spieler von ManU jubeln. Micha vergräbt sein Gesicht im Kissen und schaukelt eine Weile hin und her. Dann richtet er sich auf und schreit hochrot im Gesicht und mit zerwühlten Haaren den Fernseher an: »Ihr gewinnt nicht! Das ist wider die Statistik. Das letzte Europacupspiel auf deutschem Boden habt ihr am 17. November 1965 im Walter-Ulbricht-Stadion gegen den FC Vorwärts gewonnen. Und so bleibt es auch. Basta.« Ballack flankt von links. Wes Brown kommt nicht an den Ball. Sebescen lauert hinter dessen Rücken. Wes ist schneller, aber er trifft nicht. Der Ball geht am Tor vorbei.
Heike reicht Micha ein Bier und setzt sich neben ihn aufs Bett, auf dem die Tagesdecke wie nach einem Kampf reichlich zerwühlt aussieht. Es ist ja schon das zweite Mal bei diesem Spiel, dass Micha sich aufregen muss. Und dann schiebt Heike auch noch seinen rechten Fuß zwischen ihre nackten Beine. Gibt es eigentlich eine Statistik über die Anzahl von Herzinfarkten bei Champions-League-Spielen?
Vor dreiundzwanzig Minuten ist Nowotny verletzt ausgewechselt worden. Micha stöhnte wie der Nationalspieler, der da unten auf dem Rasen lag und sich wand. Micha wälzte sich auf dem Doppelbett und machte mit Blick auf den Bildschirm ganz ähnliche Bewegungen. »Dieser bekloppte Van Nistelrooy, dieses überbezahlte Arschloch. Typisch Holländer. Immer draufhauen und dann so tun, als hätte er damit nichts zu tun. Das Spiel ist verloren«, barmte er, und Heike rief aus der Küche: »Keine rassistisehen
Beleidigungen gegen Gästemannschaften.« – »Das musst du gerade sagen«, schrie er zurück. »Ostdeutsche Mannschaften müssten sowieso wegen Rassismus aus der Bundesliga ausgeschlossen werden.« Heike verspürte keine Lust, sich über ihr Lieblingsthema zu unterhalten, ihren kleinen privaten Weltkrieg Ost gegen West, wie sie ihn immer nennt. In solchen Situationen fragt sie sich, ob ihre Ehe nichts weiter als ein gesamtdeutsches Steuersparmodell ist. »Die Ostdeutschen scheitern einzig und allein am Geld, das ihre Mannschaften nicht haben.« – »Das von ihren bierbäuchigen Managern veruntreut wird.« – »Die allesamt aus dem Westen kommen und das Geld da auch wieder hintragen.«
Heike war ein bisschen beleidigt und blieb in der Küche, um etwas zu essen zu machen, aber sie bekam nichts herunter, und Micha reichte das Bier. Wie würde es sein, wenn Micha vielleicht mit dem neuen Kind, nehmen wir mal an, sie bekommt es, auf dem Bett liegen und Fußball gucken würde? Es würde bestimmt fragen, für wen sind wir? Und Micha würde sagen, für Leverkusen natürlich, dabei hat er als Braunschweiger überhaupt keine regionale Verbindung zu dieser Mannschaft. » Warum bist du nicht für Hannover oder Wolfsburg, das ist nicht so weit weg«, fragte Heike ihn kurz nach Klaras Geburt, als wegen Leverkusen mal wieder eine ihrer Verabredungen geplatzt war. »Hannover ist ’ne Schwuchtelmannschaft und Wolfsburg Naziretorte.« Manchmal fragt Heike sich, woher er dieses Prollgehabe hat, aus dem Sandkasten seiner Mittelstandsreihenhaussiedlung bestimmt nicht, oder vielleicht gerade von dort? Was würde sie sagen, wenn Micha stolz erklären würde, dass bei dem neuen Kind die Fußballleidenschaft in den vom Vater vererbten Genen läge?
Wenn man den Erzeuger mit dem Schwangerschaftstest rauskriegen könnte, gäbe es weniger Unheil in den Familien.
Heike vermisst Klara. Sie hätte schon vor einer Stunde hier sein sollen.
»Das ist so ungerecht, die Leverkusener sind glatt überlegen. Dort! Ist! Das! Tor!« – »Das sind eben Schlaftabletten«, sagt Heike, »ein Produkt von Bayer.« Es ist ein Satz, der immer funktioniert.
Micha bereut längst, dass er nicht zum Fußballgucken in der Oranienstraße geblieben ist. Aber ohne Hosch kam er sich da nackt vor. Und Hosch hat auf seine SMS nicht geantwortet, ist wohl mit seiner Blind-Date-Flamme zugange. Der hat es gut. Kurz denkt Micha an die Frau in den weißen Laken des Stundenhotels in der Kantstraße.
» Wo ist eigentlich der Kirsten?«, fragt Heike. »Nicht eingewechselt«, brummt Micha, »du mit deinen Ostlern immer. Der ist doch gar nicht mehr gut, der ist zu alt.« – »Der ist
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