Walpurgistag
so.
Kuttner : Man muss auch wissen, nischt is ewig.
Hörer : Aber wenn man nur ein beschränktes Dasein hat, dann wäre es doch gut, wenn die Liebe das ganz ausfüllt.
Kuttner : Du kannst dich hinsetzen und Heidegger, Hegel oder Platon lesen, sonste wat, ist alles Quatsch, hör die Hilde Knef. Das ist jetzt die Arbeitshypothese: »Eins und eins, das macht zwei, und küss und denk nicht dabei. Denn denken schadet der Illusion.« Küssen, nicht dabei denken. Da kommt das Göttliche nicht von oben runtergeschossen. Erfahrung musste machen. »Der Mensch an sich ist einsam«, das ist schon mal ein wichtiger Satz von der Knef. Dit is so.
Hörer : Das kann man doch aber ändern!
Kuttner : Ja, aber trotzdem bleibt: Der Mensch ist einsam. Du hast doch Platon gelesen.
Hörer : Ja.
Kuttner : Von den Menschen, die damals Kugeln gewesen waren. Kugeln, vier Arme, vier Beine, zwee Köppe, die Gesichter einander zugewandt. Das ist so ein schönes Bild. Und dann klettern se die Treppe hoch und wollen die Götter fertigmachen. Und da sind die Götter ’ne Spur schneller, kippen die Leiter um, voll auf die Menschen, schneiden die in der Mitte durch und ziehen die Haut vom Rücken vorne zusammen und machen da ’n kleinen Bindfaden rum, und so ist der Bauchnabel entstanden. Jetzt rennen auf der Erde lauter Halbmenschen rum und suchen die andere Hälfte der Kugel. Und wenn sie einen finden, dann reiben sie die Bauchnabel aneinander. Wieder vier Arme, vier Beene, Köpfe zueinander, versuchen so eng wie möglich zu sein. Dass aber wirklich unter sechs Milliarden Menschen die Hälften, die
zusammengehören, sich finden, vielleicht rennt deine Hälfte ja auf den Philippinen rum, verstehste?
Hörer : Na, großartig.
Kuttner : Det ist so unwahrscheinlich, dass man immer froh sein kann, wenn jemand da ist, mit dem man den Bauchnabel aneinanderreiben kann. Und als Arbeitshypothese kann man ja auch die Illusion haben, det reicht bis zum Ende des Lebens. Aber als zweite Arbeitshypothese muss man aushalten, dass es eben nicht bis zum Ende des Lebens reicht. Det reicht vielleicht eine Woche oder drei Jahre oder zehn Jahre. »Das Glück, das man mit Füßen ein ganzes Leben lang trat.« Det singt die Knef, und det is doch das Problem, dass man immer wie ein Irrer rumtrampelt und nicht sieht, was man kaputt latscht. Und das Schreckliche ist, man merkt es immer erst hinterher.«
Katrin glaubt, dass sie mit Kuttner einst eine Kugel gebildet habe. Aber die Frage ist, wie sie ihm das klarmachen kann. Katrins Handy klingelt. Sie dreht Kuttner runter. »Hosch hier. Ina, bist du dran?« Ihr Herz klopft bis zum Hals.
Auf der anderen Straßenseite steht ein Taxi. Der Innenraum ist beleuchtet, der Fahrer hat eine Binde um den Kopf. Auch er telefoniert. Seine Lippenbewegungen passen zu dem, was die Stimme am Telefon zu ihr sagt. »Tut mir leid, ich habe mich geirrt.« Das kann jetzt kein Zufall sein. Im Hintergrund sind Fußballgeräusche zu hören. Der Taxifahrer streicht sich mit schnellen Bewegungen über die Stirn. Wahrscheinlich juckt ihn der Verband. Zumindest von hier aus sieht er gar nicht so unattraktiv aus. »Nur weil wir jeder an einem anderen Ort gewartet haben? Oder hat es etwas mit mir zu tun?« Jetzt nur nicht hysterisch werden. »Es ist nicht gut, wenn es gleich mit Missverständnissen anfängt. Ich meine, du hast die SMS gar nicht richtig gelesen.« Zwei Punks nähern sich dem Taxi. »Du, ich war voll auf Schaubude geeicht, obwohl ich mich gewundert habe, warum du ausgerechnet ein Puppentheater als Treffpunkt aussuchst.« – »Nein, ich meinte die Schaubühne am Kurfürstendamm.« – »Kurfürstendamm hast du aber nicht geschrieben.« – »Na, das weiß doch jeder. Oder man guckt mal
im Internet oder im Telefonbuch nach.« – »Entschuldigung, ich war noch nie in der Schaubühne.« Erst ist ein heftiges Klopfen, dann das Geräusch einer automatisch heruntergelassenen Scheibe zu hören. » Wie steht’s?«, fragen die Punks. »Eins zu eins.« Der Taxifahrer namens Hosch dreht das Radio lauter: »Toller Pass auf Schneider, doch der bringt den Ball nicht in die Mitte zu Neuville. Das wäre eine große Gelegenheit gewesen. Aber jetzt wird bei ManU ausgewechselt.« Katrin drückt ihren potenziellen Sexpartner weg. Fußball ist ein echter Sexkiller. Die Punks trollen sich. Ha, wenn der wüsste, dass sie seine Lippenbewegungen in Sprache übersetzen kann. »Bist du noch dran?«, fragt er. Als er merkt, dass sie nicht mehr in der Leitung
Weitere Kostenlose Bücher