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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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mitgenommen. Sie gelangten auf verschlungenen Wegen in die Schönhauser Allee, und Micha lotste ihn in einen Klub. Es lief Sechziger-Jahre-Musik, und für die Getränke stand man lange an. Die meisten Leute kamen ohne Partner, tanzten eine Weile und gingen schließlich mit jemandem weg. Der Klub war nicht mehr als das Vorspiel, zumal er um zwölf schloss. Die Frau, die ihn gegen elf nach ein paar engen Tänzen mitnahm, hatte eine üppige Figur, die sie unter einem Hippiekleid versteckte. Sie wohnte gleich um die Ecke. Hinterhaus, dunkler Hausflur, Toiletten auf den Treppenabsätzen, mechanische Klingeln an den Türblättern. Im Nebenzimmer schlief ein Kind, das irgendwann aufwachte und wieder beruhigt werden musste. Der Rest war unkompliziert und eigentlich schön, und Hosch schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Grenzübergang. Zwei Wochen später ging er noch einmal rüber, aber er fand das Haus nicht mehr, und im Franz-Klub war die Frau an diesem Abend nicht. Viola hat sie geheißen, glaubt er, an den Nachnamen kann er sich nicht erinnern, nur dass sie irgendwas studierte. Manchmal kommt sie ihm in den Sinn, und er fragt sich, ob er sie noch erkennen würde. Ein Kranz von
krausen blonden Haaren umgab ihr Gesicht, der im Licht der Diskothek wie eine Korona geleuchtet hatte. Oft hat er, wenn er im Prenzlauer Berg war oder mit dem Taxi mit dreißig durch die Nebenstraßen fuhr, in den Gesichtern der Frauen nach diesem eigenartigen Haarschopf und den großen, etwas schräg stehenden Augen gesucht. Die Augen haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren bestimmt am wenigsten verändert.
    Auf der Millionenbrücke hält Hosch kurz an. Hier ist der Himmel über Berlin wunderbar weit. Nur die dunkle Silhouette des Bunkerberges im Humboldthain hebt sich vom Horizont ab. Kein Stern ist mehr zu sehen, es hat sich zugezogen. Hosch holt sein Handy aus der Hosentasche und tippt den Satz ein: »mein Vorschlag ist die schaubühne.«
    Unter ihm fährt eine S-Bahn. Hosch zählt sechs Gestalten in vier Wagen. Sie sind in sich zusammengesunken. Hosch hält seine Armbanduhr in das Licht der Straßenlaterne. 1.35 Uhr. Ein Bier noch, zum Lippenkühlen, denkt er, leckt mit der Zunge über die Schwellung und spuckt von der Brücke herab. Das Spucken tut weh. Er schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt drei Querstraßen weiter in die Grüntaler Straße, wo er sein Fahrrad an einem Zaun neben der Brandmauer anschließt, auf die ein Künstler über die gesamte Fläche den Grafen von Itzenplitz, über einer Dampflok der Berlin-Stettiner Eisenbahn schwebend, gemalt hat. Die Eckkneipe ist fast leer. Nur ein älterer Mann sitzt neben der Theke an einem Tisch. Die Bedienung spült Gläser. »Ein Deutsch Pils«, sagt Hosch und grinst. »Mach dich mal nicht lustig, das hat unser Praktikant geschrieben. In zwei oder drei Generationen wird die deutsche Grammatik ausgestorben sein. Ist ja auch gut, da sind die Türken echte Avantgarde. ’n großes oder ’n kleines?« Hosch hört diese Frage gerne, denn die Wirtin lispelt leicht. »Ich nehm ’n kleines. Nichts los heut?« – »Montags könnten wir eigentlich schließen, aber es gibt ja immer zwei, die kein Zuhause haben.« Sie nickt in Richtung des Alten, der, in sich zusammengesunken, auf sein schales Bier stiert. Unter der Hose sieht Hosch Ansätze von Prothesen. Strümpfe hat der Mann nicht an. Wahrscheinlich
lebt er allein und schafft es gerade noch ohne Hilfe in die Schuhe. Die Wirtin ist noch nicht alt, auf jeden Fall jünger als er. Hosch weiß nicht so recht, worüber er sich mit ihr unterhalten soll. Das erste Mal war er vergangenen Freitag hier. Da war der Laden voll, eine angenehme Mischung aus Uraltweddingern und Jüngeren, halb deutsch, halb türkisch. Die Einrichtung erinnert ihn an die Eckkneipe im Haus seiner Großmutter in der Gleimstraße, die es schon lange nicht mehr gibt.
    Draußen laufen drei kichernde Mädchen vorbei. »Kommt mir ja nicht zu nahe«, sagt die Wirtin in Richtung Fenster. »Ärger mit denen?« – »Das sind Sugar, Cakes und Candy, jedenfalls nennen die sich so, Rumtreiberinnen, die manchmal die Gäste anmachen. Einmal hat hinterher eine Brieftasche gefehlt, aber ich konnte denen nichts nachweisen. Wird Zeit, dass sie verheiratet werden.« Die Mädchen kichern nebenan im Hauseingang. An der Straßenecke quietschen Bremsen, vier Gestalten gehen breitbeinig auf die Kneipe zu. Die Wirtin schaut Hosch kurz an. Sie hat schöne, aber müde braune Augen. Sieht nicht

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