Walpurgistag
»Mit Doofstellen natürlich. Musst du dich gar nicht anstrengen.« Candy schaut ihn genauer an und sagt: »Der ist doch viel zu alt und außerdem Deutscher.« – »Mein Vater würde mich totschlagen«, sagt Sugar, »aber ich bin eh verkauft.« – »Dein Vater ist in der Türkei, wer weiß, ob der wiederkommt«, zischt Candy. »Sag das noch mal«, flüstert Sugar böse. »Muss ich gar nicht, du hast es auch so verstanden«, giftet Cakes. »Hört auf, euch zu streiten, wir
haben keine Zeit«, sagt Candy. »Zu meiner Hochzeit wird er da sein. Außerdem, eh ich’s vergesse, dein Bruder ist gerade verhaftet worden«, sagt Sugar mit leichter Häme in der Stimme zu Cakes. Die seufzt. »Sei froh«, sagt Candy, »da ist deine Mutter wenigstens von dir abgelenkt und kann den ganzen Abend weinen und Miran im Gefängnis besuchen.«
Der Mann auf dem Fußboden stöhnt und versucht zu schlucken. Candy benetzt ihm mit einem feuchten Taschentuch den Mund. Einen Moment lang öffnet er die Augen und schaut sie verständnislos an. »Man nennt uns die drei geheimnisvollen Wesen«, sagt die leise, ihn dabei etwas distinguiert und ohne jede Mimik anschauend, »die Hohe, die Genausohohe und die Dritte, die die Geheimnisse des Universums erhöhen und das Buch des Schicksals schreiben. Das Leben ist ein geheimnisvoller Faden, der von der Jungfrau gesponnen, von der Mutter gemessen und gehalten und von der Greisin abgeschnitten wird. Wir sind nachtaktiv. Keiner darf uns erkennen. Vor allem unsere Brüder nicht.« – »Unsere Brüder sind Tod, Hein und Gevatter«, sagt Cakes. »Gevatter?«, fragt Sugar. » Was ist das denn?« – »Ein altes deutsches Wort«, sagt Candy schnippisch. – »Typisch, Ayse, die Streberin.« Sugar schmollt. – »Keine Namen«, ruft Cakes. »Bist du bescheuert?«
Es wird heftig an die Tür geklopft. »Ist hier noch jemand?«, schreit es aus dem Flur vor der Toilette. »Da ist noch jemand drin. Ich hab da eben eine Stimme gehört. Du sicherst den Hof, und ich versuch’s von hier aus.«
»Auf, nach Hause, das ist kein Spaß hier«, flüstert eine tiefe Stimme hinter dem Fenster im Hof und hilft den drei Mädchen nacheinander mit leichter Hand durch das Toilettenfenster auf den Hof zurück. » Alex wieder«, stöhnt Sugar. »Du bist unheimlich, wie ein Geist. Kommst plötzlich von hinten und erschreckst uns.« – »Quatsch nicht, mach dich über die Mauer.« Alex’ Stimme duldet keinen Widerspruch.
Vom Nachbargrundstück aus beobachten sie, auf Mülltonnen hockend, wie ein Polizist über den Hof schleicht, die Waffe im Anschlag. »Oh, Deutschpolizist«, flüstert Sugar und muss lachen.
Alex tritt ihr auf den Fuß. »Aua«, quietscht sie, und Alex steckt sie kurzerhand in seinen Rucksack, wo sie auf Barbiepuppengröße schrumpft. Der Polizist schreit: »Hände hoch und langsam über die Mauer kommen.« Es ist totenstill. Cakes und Candy haben die Fäuste in den Mund gesteckt und schauen sich nicht an. »Brauchst du Verstärkung?«, ruft es vom Toilettenfenster her. » Weiß nicht«, schreit der Polizist, »ich glaub, ich hab mich geirrt, da ist keiner.« Schritte entfernen sich. »Abflug«, zischt Alex und scheucht die beiden Mädchen von den Tonnen. Cakes sieht, bevor sie springt, kurz über die Mauer, wie der Leblose auf einer Trage aus dem Toilettenfenster geschoben wird. Dann stürzt sie den beiden hinterher.
Als sie auf der Badstraße stehen, schreit Cakes Alex an: »Was hast du mit Sugar gemacht? Hast du ’nen Knall? Gib sie sofort wieder her!« Alex grinst und wedelt mit dem Rucksack. »Holt sie euch doch.« – »Ich hasse deine Spiele«, sagt Candy. »Sugar hat recht. Warum bist du eigentlich immer da, wenn dich keiner braucht? « – » Weil ihr meine Lieblingsgeschöpfe seid. Ich habe extra den langen Weg aus dem Grunewald gemacht.« – »Soll das ein Märchen sein?« – »Keineswegs, es war die letzte S-Bahn. Zum Glück für euch. Oder hättest du es vorgezogen, bis zur Ankunft deiner Eltern die Nacht auf dem Revier zu verbringen?« Cakes und Candy schweigen, fast könnte man meinen, sie schämten sich, aber so einen wie Alex täuschen sie nicht. »Oder vielleicht als kleine Mädchenleichen auf dem Hof der Grüntaler Straße, erschossen von einem überforderten Polizisten, der zu viel B. Z. liest? Und dem es hinterher schrecklich leidtut?« – »Schluss mit den Horrorgeschichten, Alex, ist ja nichts passiert«, sagt Candy, ihre Stimme duldet keinen Widerspruch, »und jetzt rück Sugar wieder
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