Walpurgistag
öffentlichen
Verkehrsbetriebe. Emine fragt sie immer erst ein bisschen aus, bevor sie ihnen verbal an die Wäsche geht, sie Stück für Stück ihrer BVG-Uniform entledigt und ihnen dabei noch das Geld aus der Tasche zieht. Die ganze Nacht haben sie schön gemachte Mädchen durch Berlin kutschiert und konnten sie nur flüchtig betrachten, weil sie sich auf den Straßenverkehr konzentrieren mussten. Manchmal überlegt Emine, ob vielleicht die Ehefrau nichtsahnend nebenan schläft. Aber wahrscheinlich sind die meisten einsame Freaks, die ihre Frauen durch zu viel Spezialwissen über Straßenbahnen vertrieben haben. Solchen ist Emine am Telefon schon oft begegnet. Einer wollte über nichts weiter als die Schönheit doppelstöckiger Straßenbahnwagen in Hongkong reden, über Sex aber nicht. Andere wollen es mit ihr in der Fahrerkabine treiben. Sie muss sich dann vorstellen, mit nacktem Po auf dem Armaturenbrett zu sitzen oder zu Füßen des Fahrers zu kauern und ihm, während er die Fahrgeräusche imitiert oder die Haltestellen ansagt, einen blasen.
Emine fährt selten mit der Straßenbahn. In Kreuzberg gibt es nur Buslinien und die U-Bahn. Sie sieht ihre Dienstagstätigkeit als notwendige Weiterbildung in Sachen Sex an. Sie ist siebzehn, und keine ihrer deutschen Freundinnen ist noch Jungfrau. Emine ist Pragmatikerin, obwohl ihr das Wort unbekannt ist. Sie weiß, dass sie sich gewissen Traditionen ihres Kulturkreises zu beugen hat, aber aus dem täglichen Umgang mit der Tradition weiß sie, dass auch die biegsam ist. Vom Telefonsex wird ihr Jungfernhäutchen jedenfalls nicht angetastet. Manche Männer haben schöne Stimmen, und dann muss sie die Lust nicht spielen.
Die Kaffeemaschine röchelt ab und zu, weil die Warmhalteplatte an ist. Emine schenkt sich nach. Einmal hat einer gefragt, was da für ein Mann im Hintergrund sei, der andauernd stöhne, als würde er gleich sterben. Sie hat ihn gefragt, ob es ihm gefalle, wenn da noch ein anderer sei, aber der Mann wollte sie für sich alleine, und da hat Emine die Kaffeemaschine ausgemacht.
Der erste Kunde ist ein Langweiler. Ein Taxifahrer, der am Flughafen Schönefeld auf Kundschaft wartet. »Geile Muschi,
komm zu Papa«, hat er eben gesagt, und Emine muss ein Gähnen unterdrücken, damit sie auch ordentlich schnurren kann. Was ist wohl aus dem Mann in der Toilette geworden? Er hatte ein schönes Gesicht. Wie wäre es, wenn er anstelle des Taxifahrers wäre? Emine Aksoy macht »Huch«, als stecke der Mann ihr seine Zunge in die Scheide oder zwischen die Pobacken, und weil er sie gleich wieder rauszieht, ruft sie: »Mehr! Du kommen, geben mir!« – »Bist du schon feucht, meine kleine türkische Muschi?« Sie stöhnt auf: »Ja, ja!« Der Typ am anderen Ende kommt wohl nicht so richtig hinterher, von ihm ist gar nichts zu hören, also sagt sie noch einmal mit einem satten Timbre: »Ich ganz feucht.«
Unbemerkt pufft der Kaffee- und Teeautomat K 109 in der Küche sein Leben aus.
6.59 Uhr
Alex’ Tag beginnt mit einer Ratte, und die Unbekannte sucht nach Worten
Die Ratte reckt sich, putzt sich, steht im Regen. Aufrecht, jawohl. Sie könnte jetzt etwas sagen, aber sie spricht nicht. Ich werde sie, selbst wenn sie es könnte, auch nicht zu Wort kommen lassen. Tiere sollten ihre Klappe halten. Die hier macht, was alle Ratten gerne tun, wenn sie sich unbeobachtet glauben: Sie riecht am Schuh einer Frau. Die Frau liegt zwischen den Rabatten am Alexanderplatz, gut versteckt, bis auf die Schuhe, deswegen muss sie schleunigst aufstehen. Sonst sind entweder die Schuhe weg oder sie auf dem Polizeirevier. Sonnenaufgang war schon vor eineinhalb Stunden. Die Frau weiß gar nicht, dass sie hier liegt. Sie war gestern Abend bewusstlos. Ich werde der Versuchung nicht nachgeben und in ihrem Rucksack nachsehen, ob sich ihr Name auf irgendeinem Dokument befindet. Das muss sie mir schon selber zeigen.
Die Ratte lässt ab von der Frau, flitzt auf den drei Meter entfernten Gehsteig und putzt sich die Nase. Diese Ratte kann froh sein, dass sie mitten auf dem Alexanderplatz wohnt. Ein attraktiver Ort, besser als Marzahn oder Reinickendorf, möchte man meinen, genügend Nahrung für riesige Populationen. Manchmal erschrecken sie die Leute an der Straßenbahnhaltestelle. Neulich haben es die Nager übertrieben, da kam die Schädlingsbekämpfung, weil sich jemand beschwert hat. Einige sind draufgegangen, eine ist seitdem behindert.
Die Ratten hatten ihre Zeit, die ist vorbei. Ihre
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