Walpurgistag
Schlupflöcher – Trümmergrundstücke und verlassene Häuser – sind abgeräumt und renoviert. Sie haben keine Heimat mehr.
Die Rathausuhr schlägt sieben Mal. Vereinzelt stehen Menschen an der Haltestelle am rückwärtigen Ausgang des Bahnhofs Alexanderplatz. Sie sind noch müde, manche wurden in der Nacht regelrecht
zerknittert von ihren Kopfkissen. Zu müde, um die Ratte oder die Füße in der Blumenrabatte zur Kenntnis zu nehmen. Nur mich starren sie an. Das ist auch nichts Neues. Dabei habe ich mir gestern meinen Bart gestutzt, um als Autofahrer nicht aufzufallen.
Die Frau im Gebüsch hat sich schon mehrmals bewegt, wahrscheinlich wird sie gleich von selbst aufwachen, da will ich mal Kaffee holen gehen für uns beide.
Den Rest der Nacht nach dem Umzug nach Lichtenberg habe ich in der obersten Schale des Brunnens auf dem Alexanderplatz verbracht. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren, aber noch nie war der Brunnen in den wärmeren Monaten außer Betrieb. Dort oben hat man eine wunderbare Aussicht, als schwebe man über dem Platz. Unbemerkt aufsteigen konnte ich aber nur, weil Bartuschewski und Gottfried in ihrem Polizeiauto eingenickt waren. Heute Morgen, als ich aufwachte nach zwei Stunden Schlaf, war schon die neue Schicht da, und die hatte ein paar Dealer zu filzen. So bemerkten sie meinen Abstieg nicht.
Als ich mit den beiden Billigkaffees zu den Büschen komme, ist die Frau schon aufgewacht. Sie sieht nicht gut aus und denkt angestrengt nach, als ich ihr den Kaffee reiche. Man sieht es an den Stirnfalten. Den Becher umfasst sie mit beiden Händen, als wolle sie sich daran wärmen, aber das ist sinnlos, der billigste Kaffee des Bahnhofs Alexanderplatz ist auch der lauwarmste. Trotzdem pustet sie und starrt angestrengt in die Brühe, ehe sie trinkt.
» Wie heißt du?« – » Weiß nicht.« Sie lispelt. » Wie kommst du hierher?« – »Keine Ahnung.« – »Denk nach!« – »Es lässt sich nicht erzwingen.« – »Sag irgendeinen Namen.« – »Mir fallen keine Namen ein.« – »Der Mädchenname deiner Mutter?« – »Ich weiß nicht.« – »Deines Vaters Name?« – »Keine Ahnung.« – »Hörst du die Sirene?« – »Ja.« – »Feuerwehr oder Polizei?« – »Ich kann mich nicht erinnern.« – »Das ist ein Krankenwagen. Welche Farbe haben deine Augen? Blau oder braun oder grün?« – »Du quälst mich.« – »Sag’s.« – »Grün, glaube ich.« – »Falsch, braun.«
Ich könnte jetzt eine Geschichte erfinden. Wir sind ein Paar, wir leben beide zusammen in einer Wohnung in der Frankfurter
Allee. Bald werden wir heiraten. Sie arbeitet in einem Schuhgeschäft in der Alten Schönhauser Straße.
»Zeig deine Tasche.« – »Welche Tasche?« – »Du hattest einen Rucksack, als man dich heute Nacht hierhergeschleppt hat, was dir wahrscheinlich auch entfallen ist.« – »Keine Ahnung.«
Ich ziehe die Tasche am Gurt aus der Höhle. Die Ratte kommt neugierig hinterher. Neben mir kreischt es: »Scheuch die Ratte weg!« – »Die frisst dir gleich die Nase ab. Aber jetzt wissen wir wenigstens, dass du das Wort Ratte noch kennst.« – »Rasen, Büsche, Ratten, wie furchtbar. Wie bin ich in diesen Albtraum geraten?« – »Zwei Männer haben dich aus einem rostroten Audi gezogen und hier ins Gebüsch geschleift.« – »Hm, warum?« Ich zucke mit den Schultern. »Kannst du dich an irgendetwas erinnern, was dichbetrifft oder irgendeine Person, die du sein könntest?« – »Keine Ahnung. Wahrscheinlich sollte ich mich mit Sie anreden.« – »Auf jeden Fall bist du eine Muttersprachlerin, die den Konjunktiv beherrscht. Das weist heutzutage auf eine höhere Bildung hin. Apropos Albtraum, was hast du geträumt, vielleicht bringt uns das weiter?« – »Die Flugzeuge am Himmel machten Bewegungen wie Fische. Es waren sehr viele. Sie kamen sich oft in die Quere. Ich hatte Angst, es könnte da oben eine Karambolage geben, während ich unten eine Sammlung Fotos anschaute. Jedes einzelne zeigte jahrtausendealte Mikroben an Stöcken. An mehr kann ich mich nicht erinnern.« – »Hast du nicht ein Portemonnaie dabei, Ausweis, Kreditkarte, Handy, all das Zeug, was man heute so mit sich herumträgt?«
Sie fasst in den Rucksack. Es hat den Anschein, als sei sie enttäuscht, als sie die leere Hand nach hektischem Tasten wieder herauszieht.
»S 45«, sagt sie. »S 45 hieß mein Telefon.« – »Kennst du die Nummer noch? Oder irgendeine Nummer, die im Speicher war?« Sie denkt nach, schüttelt dann aber
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