Walpurgistag
zwei Stunden frei. Ihre Mutter weiß das nicht, vielleicht will sie es auch nicht so genau wissen, Hauptsache, sie schafft die Realschule.
Offiziell sind es zwei Stunden Mathe, für die sich Emine sorgfältig schminkt. »Hast du Miran in den letzten zwei Tagen gesehen?«, fragt Aso, im Türrahmen stehend, ihre Tochter. Emine hebt die Augenbrauen, um sie nachzutuschen, und beißt sich auf die Zunge. Nicht dass ihr das mit der Verhaftung herausrutscht. Von der kann sie als brave Tochter gar nichts wissen, schließlich hat sie die ganze Nacht in ihrem Bettchen geschlafen. Ihre Mutter wird es früh genug erfahren, und dann wird sie wieder anfangen zu heulen, wie beim letzten Mal, als Miran mit einer Bewährungsstrafe davonkam, weil er noch nicht achtzehn war. Emine möchte gar nicht daran denken, was sie in den nächsten Wochen erwartet.
»Nein«, sagt sie und bemüht sich, das Gesicht ihrer Mutter im Hintergrund des Spiegels zu ignorieren. Ihre Mutter hat die Gabe, die Lügen aus ihren Augenwinkeln hervorzuholen. Emine knipst die Kosmetiktasche zu und will sich an der Mutter vorbeidrücken. » Wenn dein Vater dich so sehen würde. Ein kurdisches Mädchen macht sich nicht so zurecht.« Aso hält Emine am Arm fest und zwingt sie, ihr ins Gesicht zu sehen. Emine hat keine Lust, mit der Mutter zu streiten. Wie oft hat sie ihr gesagt, dass sie ein Berliner Mädchen ist und dann erst eine Kurdin. Sie nimmt schon genug Rücksicht auf ihre Familie. Sie dreht ihren Kopf weg, die Mutter lässt los, tritt ins Bad und sagt fast beiläufig: »Übrigens ist heute Nacht eine deiner Freundinnen ins Urban eingeliefert worden.« Dann schließt sie die Tür zweimal hinter sich ab. Emine fragt durch die Tür: » Wer war es? Was ist passiert?« – »Diese große Schöne, die Abitur macht«, ruft die Mutter, »mit dem Fahrrad verunglückt, vor einer Stunde ungefähr.« – »Du musst dich irren, Ayşe hat kein Fahrrad. Sie kann, glaube ich, gar nicht Fahrrad fahren.« – »Ich denke nicht, dass ich mich irre. Sie ist am Kopf verletzt, ich habe unter ihrem Bett gewischt und konnte ihr Gesicht sehen.«
Nein, Ayşe kann es nicht sein. Sie sind doch zusammen zur Ringbahn gegangen. Zwar ist sie umgekehrt, aber wo soll sie das Fahrrad herhaben? Das passt alles nicht zusammen. Sie wird sie in ein paar Stunden anrufen, am besten in der großen Pause. Ihre Mutter lässt sich Zeit im Bad. Mach ja hin, denkt Emine, meine
Schicht fängt an. Sie geht in die Küche, um sich einen Kaffee einzugießen.
Als die Mutter endlich aus dem Haus ist, macht Emine es sich mit dem Telefon und der Kaffeetasse in der Sitzecke bequem. Entspann dich, das Leben ist schön! Aye ist nicht im Krankenhaus! Emine atmet tief durch, nimmt noch einen letzten Schluck und das Telefon. Sie ist so weit.
Ach, Shit. Sie steht noch einmal auf und schließt die Wohnungstür ab. Den Schlüssel lässt sie stecken. Zwar braucht sie vor Miran jetzt keine Angst mehr zu haben, aber so sicher kann man sich da auch nicht sein, vielleicht haben sie die Beweise verbummelt. So manchen Dienstagmorgen hat sie gefürchtet, dass er noch einmal zurückkommen und sie bei ihrer Arbeit erwischen könnte. Sie wäre wahrscheinlich auf der Stelle tot gewesen.
Für Überfall und Körperverletzung gibt es ein paar Jahre, auch wenn man noch nicht einundzwanzig ist. Der Mann in der Kneipentoilette hat ganz schön was abbekommen.
Emine tippt die Nummer ein. Sie hat sich extra ein eigenes Telefon für den Job besorgt, damit die Mutter nicht dahinterkommt, was sie da tut. Ihr liegt nichts an einem kühlen Grab, obwohl sie manchmal denkt, dass sie übertreibt, die Mutter kann keiner Fliege was zuleide tun, und Miran ist nicht mehr als ein Aufschneider, den sie ohne Probleme niederringen kann. Emine ist wie jeden Dienstag ein bisschen nervös und fummelt an ihrer Unterwäsche herum. Dann übt sie Stöhnen. »Suleyman und Seva – ausländische Frauen machen dich an«, haucht sie mit einem kleinen Juchzer am Ende des Satzes.
Immer wieder hat sie die Werbung im Fernsehen gesehen, und irgendwann hat sie sich die Telefonnummer notiert. Sie brauchte mehrere Versuche, ehe sie an ein Mädchen kam, das nicht gleich wieder auflegte oder »Geh aus der Leitung, Fotze« rief, sondern ihr die Nummer des Chefs gab. Und so war sie eingestiegen.
Emine Aksoy macht Frühdienst für die Nachtschichtler, die nach der Arbeit nicht zur Ruhe kommen und sich nicht alleine einen runterholen wollen. Meistens sind es Angestellte der
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