Walpurgistag
dann Sex, du weißt schon, geküsst und so.« Vivian spricht Sex mit weichem S aus. »Aber dann haben sie sich gestritten, und John hat Julia in die Kniescheibe geschossen.« – »Gibt’s doch gar nicht!«, sagt Viola. »Doch,
echt. Seitdem liegt sie im Krankenhaus, und Nico, der Lehrer ist, will ihr in Chemie helfen, damit sie nicht sitzen bleibt. Und jetzt küssen sie sich eben. Und ich finde das gut!« Vivian stampft mit ihrem kleinen Fuß auf. »Wenn ich mit der Schule fertig bin, gehe ich zu Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Vielleicht auch vorher schon.« – »In welcher Klasse bist du denn?« – »Ich komme erst im September richtig in die Schule, jetzt ist nur Vorschule.« Als die nächste Werbepause kommt, verschwindet sie im Nebenzimmer und kommt mit einem neuen Schulranzen wieder, an dem noch das Preisschild eines Discounters hängt. »Ich kann auch schon schreiben.« Sie holt ein Heft und einen Füller aus dem Ranzen und malt in Großbuchstaben die Namen ihrer Familie auf einen Zettel: MAMA PAPA VIVIAN TOBI KEVIN. Und auf die Rückseite: SEKI SEMRA ANAS. Weiter kommt sie nicht, denn gerade läutet ein Jingle die nächste Runde der Serie ein, und Vivian stürzt an den Bildschirm zurück. Viola steckt die Hülle auf den Füllhalter. Der kleinere der Jungen hat die Hälfte des Tüteninhalts auf dem Bettzeug verteilt. Vivian scheucht ihre Brüder hoch und legt das Bettzeug zusammen. Sie verschwinden aus dem Wohnzimmer, eine Spur zertretener Chips zurücklassend.
Nebenan ist ein Maunzen zu hören. »Oh, Anastacia«, sagt Vivian tonlos. »Findest du es toll, dass ihr jetzt noch ein Baby habt?«, fragt Viola und kommt sich plötzlich vor wie eine, die die Kinder fremder Leute aushorcht. »Ich finde Babys blöd«, sagt Vivian, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Wenn ich groß bin, will ich nur einen Mann und einen Hasen haben.« Sie sagt das mit solcher Entschiedenheit, dass Viola stutzt. Keines ihrer Kinder wäre mit sieben auf die Idee gekommen, keine Familie haben zu wollen. »Kinder sind gar nicht süß«, sagt Vivian noch und dann nichts mehr, weil sie gebannt auf die Schöne und den alten Knacker starrt, die sich gerade heftig küssen. Vivian schließt die Augen wie Julia Blum und gibt sich einem imaginären Liebhaber hin. Viola geht ins Bad.
Als sie wieder zurückkommt, sitzt der angeheiratete türkische Cousin in Unterhose auf dem Schlafsofa und schaut ebenfalls
Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Vivian erklärt ihm gerade die Konstellation der handelnden Personen, aber der Türke versteht kein Wort. Er hat einen riesigen Knutschfleck am Hals.
Viola weiß nicht so recht, wo sie mit sich hinsoll, und setzt sich auf die Lehne des Schlafsofas, die aber bedrohlich knackt. Vivians Tante kommt mit Anastacia auf dem Arm ins Wohnzimmer. »Wieso bist du noch hier?«, fragt sie ihren Mann. Der zuckt die Schultern und schaut sie teilnahmslos an. Sie sagt etwas in scharfem Ton auf Türkisch. Er antwortet knapp. Sie wird laut. »Ruhe«, schreit Vivian, »ich will Julia verstehen.« – »Du kleines Monster hältst deine Klappe, wenn sich Erwachsene unterhalten. « – »Erwachsene?«, fragt Vivian abfällig. Ihre Mutter kommt zur Tür herein, ihre beiden Söhne hängen wie Affen an ihr. Ihr Nachthemd ist bis über die kräftigen Schenkel hochgerutscht. »Der will nicht zur Schule gehen«, sagt die Cousine, »was soll ich nur mit dieser tauben Nuss machen?« – »Warum will er nicht, das war die Bedingung dafür, dass er dich heiraten und herkommen darf.« – »Er sagt, es ist wegen dem Knutschfleck.« – »Soll er doch ein Pflaster draufkleben«, mischt Viola sich ein, »kann ja sagen, dass er sich beim Rasieren in den Hals geschnitten hat.«
Die beiden Frauen sind begeistert, nur der Mann der Cousine nicht, nachdem seine Frau ihm den Vorschlag ins Türkische übersetzt hat. »Na, was fällt dir jetzt wieder ein?«, fragt sie. »Ja, schau mich nicht so blöd an, ich rede mit dir. Und wenn du regelmäßig zu deinem Deutschkurs gehen würdest, könntest du mich auch verstehen.« Seki schüttelt den Kopf. »Arschloch«, sagt die Cousine, »warum hab ich mir bloß von dem ein Kind andrehen lassen.«
»Vivi, gehst du mal schnell zum Bäcker und holst Brötchen?«, fragt Melanie. Im Fernsehen läuft der Abspann. »Ich heiße Vivian«, sagt das Mädchen in einem Ton, der keine Widerrede zulässt. »Kann ich mitkommen?«, fragt Viola, der es langsam zu eng wird zwischen all den vielen Menschen.
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