Walpurgistag
Schlafperformance ist definitiv beendet, und sie muss sich einen einigermaßen gesitteten Abgang verschaffen. Unbemerkt verschwinden kann sie nicht mehr. Sie war gestern über dem Satz »Familie Schöller steht nicht über den Dingen, sie wird
jeden Tag von ihnen überwältigt« eingeschlafen und hatte ihn auch nach dem Aufwachen nicht vergessen. Aber eigentlich war das arrogant. Wie oft wurde sie von Dingen überwältigt. Und wie viel Mist machte sie, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Bei fremden Familien die Nacht verbringen, zum Beispiel. Da kann ich ja gleich bei der BILD anfangen. Reporterin Viola zu Besuch bei Familie Schöller. Als Dank winkt ein kompletter Einkauf bei Aldi, bei unkooperativem Verhalten eine Anzeige wegen Leistungserschleichung beim Arbeitsamt.
Das ältere Kind, ein Mädchen mit zerzausten Zöpfen und einem bodenlangen rosa Nachthemd, löst sich aus dem Schutz des Türrahmens und kommt vorsichtig näher. »Meine Tante hat gesagt, Sie werden uns fressen, wenn wir am Morgen hier reinkommen«, sagt sie. »Mir schmecken kleine Kinder nicht«, antwortet Viola und versucht sich aufzusetzen, was ihr Mühe bereitet, denn ihr Rücken schmerzt ob des unbequemen Nachtlagers. » Wie heißt du?«, fragt Viola, weil ihr nichts Besseres einfällt. »Ich bin Vivian, und das sind meine beiden Brüder. Sie sind ziemlich frech.« Die beiden schauen erst ihre Schwester an und grinsen dann in Richtung Gästesofa. Beider Milchzähne sind schwarz, im Oberkiefer hat der Größere nur noch Stummel. Er trägt eine Nuckelflasche mit einer braunen Flüssigkeit um den Hals, die er ihr hinhält. »Trinken?«, fragt er. » Was ist das?«, fragt Viola. »Eistee?« – »Coca Cola«, sagt Vivian. Viola lehnt dankend ab. Der andere Junge hat inzwischen eine Tüte Chips unter dem Sofa hervorgezerrt. Die kleinen rosa Körper der Jungen, die nur mit einer Windel bekleidet sind, bewegen sich unablässig, als hätten sie mit ihrer Unbewegtheit im Türrahmen schon ihr ganzes Potenzial an Ruhe für den Tag verbraucht. » Wie alt sind denn deine Brüder?« – »Eineinhalb und fast drei.«
Der Jüngere umarmt Viola und sabbert ihr eine Mischung aus Cola und Spucke auf die linke Wange, der zweite drückt ihr von hinten vor Freude den Hals zu und tritt dabei gegen die schmerzende Wirbelsäule. Viola traut sich nicht, die Kleinen abzuschütteln. Vivian, die sichtlich froh ist, die Verantwortung
abgeben zu können, macht den Fernseher an und schaut zwei Menschen zu, die sich hölzern klingende Sätze an den Kopf werfen und dabei eckige Bewegungen machen, als seien sie ferngesteuert. Die Jungen lassen von Viola ab und setzen sich dicht vor den Fernseher. »Kennst du die Sendung?«, fragt Vivian. Viola schüttelt den Kopf. » Wo kommst du denn her? Bist du nicht aus Deutschland?« – »Doch, aber ich habe keinen Fernseher.« – »Du Arme«, sagt Vivian. »Das ist Gute Zeiten, schlechte Zeiten, kennt doch eigentlich jeder.« – »Und worum geht’s da?« – »Um Liebe und so. Manchmal ist auch einer böse, aber die gucken dann schon vorher so, dass man es gleich weiß.« – »Guckst du das jeden Morgen?« – »Ich schaue es abends und morgens noch mal die Wiederholung. Ich kenne jeden.« – »Wen magst du am liebsten?« – »Julia Blum.« – » Wer ist das?«, fragt Viola, und Vivian steht auf und tippt mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. »Die mit den langen blonden Haaren.« Viola sieht die junge Frau, die schmachtend zu einem Mann aufschaut, der bestimmt doppelt so alt ist wie sie. »Und was ist mit der Julia?« – »Die ist zuerst mit John in die Schule gegangen. John sieht auch schön aus, ist aber jetzt böse geworden. John kann ich dir nicht zeigen, heut ist nämlich Nico dran, das ist der Mann, den sie jetzt neu liebt.« – »Der ist doch aber viel zu alt für sie«, sagt Viola. Vivian schaut sie an, als sei Viola aus dem vorletzten Jahrhundert zu Besuch gekommen. »Das ist doch egal, wie alt der ist. Der ist gut für sie.« – »Aber ist Julia nicht mit John zusammen?« – » Wollte ich doch gerade erzählen. Sie war dann eine Weile weg, allein in der Sportschule, wo John nicht mitkonnte, weil er Asthma hat, wie mein Bruder, der kriegt dann keine Luft mehr und kann nicht rennen. Das war eben eine Schule, wo man rennen können muss. Jetzt ist Julia aber wieder zurückgekommen, weil alle an der Sportschule doof waren und die Schule auch gar nicht bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten mitspielt. John und sie hatten
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