Walpurgistag
sich wohlfühlt in Lichtenberg. Ist eben ihre Heimat. Einmal Gotlindestraße, immer Gotlindestraße. Diese germanische Kuh! Spätestens wenn Saskia zum Studium geht, krieg ich’s auch hin und zieh hier weg.
Draußen vor dem Haus stolziert ihr Nachbar über die Straße zur Friedhofsmauer, wo sein Mercedes geparkt ist. Die meisten anderen in der Straße fahren in alter Verbundenheit Skoda, ein paar heimliche Sozialdemokraten Golf oder Passat, während sie einen alten Ford Fiesta, Baujahr ’86, ihr Eigen nennt, den sie genauso vernachlässigt wie ihre Spüle. Dauernd schreibt jemand » Wasch mich!« in den Staub der Karosse. Ich möchte meinen Arsch verwetten, dass das kein Kind macht, es gibt ja kaum noch welche hier. Jetzt steigt der Nachbar wie ein gespreizter Lackaffe ins Auto, das ihm drei Nummern zu groß ist. Der Abhörspezialist macht heute in Versicherungen. Ihr Vater hat damals schon gesagt, der läuft nicht rund, der muss mal zur Durchsicht. Aber der hat es immer geschafft, sich durchzumogeln, selbst bei der größten Versicherung Deutschlands. Die meisten seiner Kollegen waren sechs oder sieben Jahre Versicherungsvertreter, dann hat ihre Vergangenheit sie wieder eingeholt. Der aber quatscht jeden so lange zu, bis der alles unterschreibt, was er und sein Arbeitgeber wollen.
Das war schon bei seiner ersten Karriere so, aber nun hat er keinen falschen Ausweis mehr, sondern eine schöne Visitenkarte mit Doktortitel und der Berufsbezeichnung Versicherungsagent. Sogar Agent konnte er bleiben. Dass er den Doktor an der Hochschule für Staat und Recht gemacht hat, danach fragt heute keiner mehr. Im Gegenteil, so ein Doktor sieht gerade bei älteren Damen gut aus, die eigentlich schon überversichert sind. Katrin Manzke hat er auch mal eine Karte geschenkt und »Mit besten Empfehlungen von Ihrem Nachbarn« daraufgeschrieben, aber sie wollte nicht von ihm versichert werden.
»Mach dich vom Acker«, ruft sie ihm durchs geschlossene Fenster zu. Sie will auf ihrem Weg zum Arbeitsamt Berlin-Ost keinem ihrer Nachbarn begegnen.
Wahrscheinlich sind sie schon bei Nummer 470. Arbeit gibt’s eh nicht, man zeigt sich, barmt ein bisschen, legt die gesammelten Ablehnungen auf Bewerbungsschreiben vor und geht wieder.
Als Katrin Manzke 1995 das erste Mal nach vielen Jahren »die Burg« wieder betrat, nun nicht mehr als Tochter, sondern als arbeitslose Elektrikerin, nachdem ihre PGH Heimelektrik Friedrichshain in der Schreinerstraße endgültig pleitegegangen war, fand sie ihre Russischlehrerin auf dem Platz der Arbeitsvermittlerin vor. Sie hielt das erst für ein Missverständnis, aber die Russischlehrerin, die alle in der Schule wegen ihrer ausladenden Hüften Matrjoschka genannt hatten, sagte, das sei schon richtig, sie arbeite jetzt hier und sei ihre zuständige Sachbearbeiterin. Katrin Manzke fand nach ein paar Sekunden ihre Sprache wieder : »Russisch war ja schon nicht so toll, aber Arbeitsamt, das müssen Sie zugeben, ist ein bisschen wie Staatssicherheit. Die wenigsten kommen freiwillig her. Naja, ist ja auch im selben Gebäude, haha.« Matrjoschka schaute sie missbilligend an, so wie damals in der Vinzent-Porombka-Oberschule, wenn Katrin das Wort Dostoprimetschatelnosti nicht über die Lippen gebracht hatte. Matrjoschka, die immer noch ihren angelernten russischen Akzent benutzte, schlug ihr eine Umschulung zur Floristin vor. »Ein Jahr Weiterbildung, unser bestes Angebot, wird gern genommen.
Blumen sind so krisenfest wie Salz. Haben amerikanische Forscher entdeckt.« – »Ich denke, die Amerikaner sind unsere Feinde? Habe ich bei Ihnen gelernt.« – »Das waren andere Zeiten.« Kein bisschen verlegen war Matrjoschka bei diesem Satz gewesen. Bei dir piept’s wohl, Steckpuppe, dachte Katrin Manzke damals. Was sie gesagt hat, ist auch nicht viel besser gewesen. » Wissen Sie, mein geschiedener Mann war Elektriker bei der Staatssicherheit und immer auf Montage. Ist der heute noch, Libyen, Dubai, Irak, der Betrieb ist im Wesentlichen derselbe, nur der Name und die Rechtsform sind neu. Dem geht’s gut, und ich, die ich lieber in einen normalen Betrieb gegangen bin, soll hier zur Blumentante umgeschult werden? Bloß, weil ich Ihnen zum Lehrertag mal ein paar geklaute Rosen geschenkt habe, wird aus mir noch lange keine Floristin. Haben Sie nicht was Handfestes?« Hatte Matrjoschka nicht, nur sie, Bittstellerin Manzke, eine dreimonatige Sperre in der Akte. Wegen fehlender Kooperationsbereitschaft. Matrjoschka wurde bald
Weitere Kostenlose Bücher