Walpurgistag
das wolltest du doch.« – »Ich nehme mal an, du hast Abitur.« – »Weiß nicht.« – »Und was bedeutet deiner Meinung nach Miami richtig
geschrieben?« – »Eine Stadt im Süden von Nordamerika. Schönes Wort. Riecht nach Frühling.« – »Und wie heißt du?« Sie zuckt die Schultern. »Mensch, Alex, quäl mich nicht, ich weiß es nicht.« – »Gut, dann nenne ich dich Helga, wie Annja vorgeschlagen hat.« – »Weberwiese hab ich schon mal gehört«, sagt Helga, ohne ihren neuen Namen zu kommentieren. »Du meinst bestimmt das Hochhaus an der Weberwiese. Das stand im Osten in jedem Heimatkundebuch.« Sie grübelt. »Ich weiß nicht, Osten hört sich irgendwie nicht gut an. Etwas gefällt mir daran nicht.« – »Wir kriegen schon noch raus, wo das Bein dick ist«, sage ich, und sie schaut mich verständnislos an.
10.15 Uhr
Viola Karstädt wird von einer Angestellten der Bäderbetriebe zur Weißglut gebracht
Viola Karstädt läuft über die S-Bahnbrücke an der Landsberger Allee und schwenkt dann nach rechts in Richtung Schwimmhalle, im Kopf die Krankheit ihres Sohnes, hoffentlich nicht wirklich schlimm, und noch viele andere unerledigte Sachen. Zum Beispiel fragt sie sich, während ihr Blick über das Europa-Park-Gelände schweift, ob man die Geschichte einer Stadt aus einer Ich-Perspektive wirklich erzählen könne. Schon das Unkraut verstehe man nicht, das in den Ritzen der Gehwegplatten wächst. Warum tut es das an der Stelle? Und wer kam auf die Idee, so ein riesiges Gelände, wie das hier, mit Sichtbeton zu versiegeln, nachdem die Stadt gerade erst die Mauer losgeworden war? Auf dem Bauschild hatten nette weißhäutige, ordentlich gekleidete Familien auf dem Plateau über der Hallenradbahn und dem Schwimmstadion unter Apfelbäumen gesessen. Jetzt ist die Grünanlage über dem Beton von Hunden verkackt, und ein Teil der Apfelbäume hat es vorgezogen, gar nicht erst anzuwachsen. Auf dem Platz treffen sich höchstens Leute, die Pläne schmieden, von denen andere nichts erfahren sollen. Und dann auch eher in der Nacht. In der Sommersonne ist das ein Schmelztiegel, der alles verdorren lässt.
Viola Karstädt läuft über das Plateau zum Fahrstuhl, der hier mitten im Niemandsland auf und abfährt. Bevor sie in die Betonkatakomben hinabschwebt, sieht sie noch, wie sich der Himmel von Osten her aufklart. Dann sagt eine weibliche Roboterstimme: »Tür schließt.« Der Fahrstuhl stinkt nach Pisse und ist über und über mit Tags bekritzelt. Hier möchte sie nicht stecken bleiben.
Als sie endlich die Schwimmhalle betritt, schlägt ihr ein Schwall feuchtwarmer, nach Chlor riechender Luft entgegen. Sie macht zwanzig Schritte im leeren Foyer geradeaus bis zum Eckcafé
und noch einmal zehn nach einer Vierteldrehung nach rechts in Richtung Haupthalle, an deren Eingang eine mürrische, mit Häkeln vollauf beschäftigte Frau hinter Glas sich beim Anblick Viola Karstädts widerwillig darauf einstellt, ihr eine Karte verkaufen zu müssen. Aber Viola Karstädt möchte ohne zu zahlen rein und erklärt der Häkelfrau lang und breit, dass sie einzig und allein gekommen sei, um ihren kranken Sohn abzuholen, aber die Frau schaltet sofort von ihrer Häkelarbeit auf stur und sagt mit einem auf höchste Pikiertheit schließenden Ton, das könne ja jede behaupten und dann erst nach einer Stunde wieder herauskommen mit nassem Haar. Viola Karstädt bietet ihr an, ihre Tasche als Pfand dazulassen, damit die Angestellte auch wirklich sicher sein könne, dass sie ohne Schwimmsachen die Halle betrete, aber die Frau sagt, schon wieder ganz in ihre grässlich rosane, ja, rosane denkt Viola, mit Absicht denkt sie das, obwohl sie als Literaturwissenschaftlerin und Philosophin natürlich weiß, dass es rosa heißt und nicht gebeugt wird, jedenfalls ist diese blöde Bäderbetriebskuh schon wieder in ihre rosane Häkelei vertieft, Taschen aufbewahren dürften sie überhaupt nicht mehr, laut Chefetage der Bäderbetriebe, denn dann könnte sie ja später behaupten, es fehlten entscheidende Dinge daraus, nein, das käme auch nicht infrage, sie solle bezahlen und gut. Viola denkt kurz darüber nach, über das Drehkreuz zu springen, aber sie ist sich sicher, dass sie dann erst recht nicht bis zu ihrem Sohn gelangen würde, denn irgendwo in den Gedärmen dieser unterirdischen Schwimmfabrik gäbe es noch einen durchtrainierten Sicherheitschef, der sich kurz vor der Halle vor ihr aufbauen und sie des Hauses verweisen würde. Also entnimmt Viola
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