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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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es sich sogar zu seinem vorletzten Geburtstag gewünscht, aber immer wenn er das Thema ansprach, hat seine Mutter den Kopf geschüttelt. Kein Geld. » Wenn ich mal eine Ausstellung habe in Köln oder Frankfurt am Main, dann nehme ich dich mit, und dann fahren wir ICE.« Aber seine Mutter hat überhaupt keine Ausstellungen mehr. Paul erinnert sich nur dunkel an eine, die vor sehr langer Zeit irgendwo in Berlin gewesen war. Ein paar Leute haben laut schimpfend den Raum verlassen, und Paul hat sich geschämt, aber ihm will der Grund nicht mehr einfallen. Statt einer Bahnreise hat seine Mutter ihm das ICE-Buch zum Geburtstag geschenkt. Paul ärgert sich, dass er es nicht dabeihat, da könnte er alles vergleichen.
    Marcus, der ist sogar nach Amerika geflogen mit seiner Mutter, obwohl die auch nur Künstlerin ist. Sie malt Bilder, auf denen meistens sie zu sehen ist, manchmal Marcus allein oder mit Freunden. Auf einem, hat Marcus jedenfalls behauptet, sei auch er mit drauf, aber Paul hat nur seine langen Haaren wiedererkannt. Sie haben nie Modell gestanden, nur fotografiert hat Marcus’ Mutter sie, und sie mussten sich auch nicht nackt ausziehen wie die Modelle seiner Mutter. Auf dem Bild waren ihre Gesichter ein
wenig verschwommen, als habe Marcus’ Mutter, bevor das Bild trocken war, mit dem Küchenhandtuch von links nach rechts über die noch feuchte Farbe gewischt.
    »Bürgerliche Kacke«, war der Kommentar seiner Mutter, als Paul ihr den Katalog mit dem Bild zeigte, »die malt für den Markt«. Paul konnte sich unter dem Markt nichts vorstellen, außer dem Hackeschen Markt vielleicht, aber was hat der mit den Gemälden von Marcus’ Mutter zu tun? Die Gemälde rochen jedenfalls nicht so streng wie die Bilder seiner Mutter, zum Beispiel das mit dem Titel Die Samenräuberin , das so schrecklich nach Kastanienblüten stinkt und das sie deshalb letzte Woche weggeschafft hat.
    Die Türen schließen sich mit einem lauten Klacken. Paul stürzt zur Tür und findet keine Klinke. Panisch schaut er sich um. Was soll er jetzt machen? Warum war er so unaufmerksam und musste an Marcus denken? Der ist doch sowieso nur ein blöder Angeber.
    Was, wenn jetzt ein Schaffner kommt und ihn nach der Fahrkarte fragt? Was soll er dann sagen? Er wollte doch nur mal einen ICE von innen sehen? Oder dass seine Mutter einen Platz suche und er hier auf sie warte? Paul trippelt hin und her und kneift die Beine zusammen, als wenn er mal müsse. Sein Blick fällt auf die Schuhe seiner Mutter an seinen Füßen, und er hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Sie wird gar nicht aus dem Haus gehen können, denn sie hat nur dieses eine Paar. Was, wenn er nicht mehr zurückkommt? Aber vielleicht kann sie ja seine Badelatschen anziehen.
    Ganz sanft rollt der Zug an, und Paul gibt auf. Schicksal, würde seine Mutter jetzt sagen. Er setzt sich auf einen freien Platz und schaut aus dem Fenster. Wie schön der Zug dahingleitet. Nur schade, dass man das Fenster nicht aufmachen kann. Paul sieht die Spree und fährt ganz nah am Fernsehturm vorbei, er sieht die Rückseite der Markthalle, und dann kommt auch schon der Hackesche Markt, aber der ICE fährt am Bahnhof vorbei, und auch den Bahnhof Friedrichstraße durchfährt er. Dann treten auf einmal die Häuserschluchten zurück und geben eine weite Fläche frei, an deren Ende Paul das Kanzleramt erkennt, über das sie
neulich in der Schule gesprochen haben. Rechts von den Schienen breitet sich ein riesiges Loch aus. Paul sieht die Leute in der S-Bahn scheinbar rückwärts an sich vorbeifahren, und dann hat der ICE auch schon die S-Bahn abgehängt. Paul hört sein Herz ganz laut klopfen. Achtundvierzig Sitze im Großraum sowie drei Abteile mit jeweils fünf Sitzen. In der Mitte befinden sich zwei Garderoben. Es ist alles so, wie es in seinem Buch beschrieben ist. Paul gefällt das helle Blau der Sitzpolster.
    Plötzlich drosselt der ICE das Tempo und gleitet langsam in einen Bahnhof.
    »Zoologischer Garten«, liest Paul. »Bremsvorgang«, flüstert er und bleibt sitzen, die Nase fest an die Glasscheibe gedrückt, bis der Zug wieder anfährt.

10.40 Uhr
Frau Köhnke und Frau Menzinger erwarten die Neue (Teil 1)
    Frau Menzinger (neben Frau Köhnke mit den Armen auf der Balkonbrüstung der Seniorenresidenz Kollwitzstraße sich aufstützend und plötzlich sehr stark in Dialekt verfallend, was ansteckend auf Frau Köhnke wirkt ): Da war ick doch neulich, vor meinem Umzug noch, in dem neuen Aquarium, scheißteuer det

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