Walpurgistag
Mann in der Uniform hoch, der ihn an der Jacke gepackt hat und leicht hochgehoben hält. Nicht kaputt reißen, denkt Paul, ich habe keine andere. »Und, wo ist die Klasse?«, fragt der Mann und lässt ihn fallen. »Ich habe mich in der Stunde geirrt. Um 11 Uhr ist der Treffpunkt.« Der Mann schaut ihn misstrauisch an. Eine Polizeiuniform ist das nicht, denkt Paul, der hier hat eine blaue an. » Wenn ich dich hier noch einmal auf dem Brett erwische, zerhack ich es, und du kriegst Hausverbot, ist das klar?« Paul nickt, den Blick auf den Fußboden gerichtet. »Schau mich dabei an!« Der Mann greift Pauls Kinn unsanft und drückt es nach oben. »Haben wir uns verstanden?« Paul kann jetzt nicht nicken, sein Gesicht ist wie in einen Schraubstock geklemmt. Endlich lässt der Mann los. Paul nimmt sein Skateboard und läuft so schnell, dass es gerade noch als Gehen durchgeht, durch den Tunnel. Je mehr er sich dem entgegengesetzten Ausgang nähert, desto schneller wird er. Auf den Stufen des Hinterausgangs haben es sich ein paar Trinker zwischen Bierflaschen und Schlafsäcken gemütlich gemacht. »Wat denn, wat denn«, schreit ein Mann mit zotteligem Haar, »biste von ’ner Tarantel jestochen?« Paul rennt um die Ecke bis unter die Brücken, wo es dunkel ist.
Niemand soll sehen, dass er weint. Und es war auch nicht wegen dem blöden Mann in der Uniform. Er hat nur gerade an seine Mutter denken müssen, dass sie vielleicht eines Tages auch hier
zwischen den Pennern sitzt und dass er manchmal nicht weiß, was er tun soll. Seit Kurzem denkt er immer, wenn er sich ganz allein fühlt, an Klara. Vielleicht muss er mal mit ihr darüber sprechen. Aber was ist, wenn sie es nicht versteht? Ihre Eltern sind ganz normal, ihre Wohnung riecht nach Parfüm, und die Küche ist sauber. Klara hat bestimmt noch nie eine Betrunkene gesehen, und wenn doch, dann kennt sie sie ganz bestimmt nicht persönlich.
Was soll er jetzt tun? In die Schule kann er nicht mehr. Er schleicht sich durch den Hintereingang zurück in den Bahnhof. Im Tunnel wird gerade die Ankunft eines ICE auf Bahnsteig sechs angesagt. Paul schaut durch die Unterführung. Der Mann mit der blauen Uniform ist nicht zu sehen. Er rennt die Treppenstufen hoch. Eben fährt der Zug ein, und Paul erkennt die Schnauze der Baureihe 401. Sein Herz schlägt schneller. Genau das ist sein Modell, das zu Hause auf dem Fensterbrett steht. Schon tausendmal hat er das Original bewundert, wenn es am Hackeschen Markt vorbeiglitt wie ein sanfter Pfeil. Mit dem Bordrestaurant in Wagen zehn, der aus der Reihe herausragt, weil er höher ist.
Der Zug kommt zum Stehen. In der Mitte des Bahnsteigs sieht Paul eine blaue Uniform und schummelt sich schnell zwischen die vor Wagen drei stehenden Reisenden. In Wagen drei sind die Videobildschirme, denkt Paul, der als Erster einsteigt. Dann aber weiß er nicht sofort, wohin, und steht den nachdrängenden Leuten im Weg. »Na, du suchst wohl deine Eltern?«, fragt eine Frau. Paul schüttelt heftig den Kopf und weicht im Gedränge nach links aus, wo die Wand wie eine Ziehharmonika aussieht. Er macht sich ganz klein und wartet ab, bis alle anderen ihre Plätze gefunden haben. Niemand beachtet ihn mehr. ICE Johannes Gutenberg, stand draußen über den Fenstern. Eigenartig, hieß dieses Gymnasium in Erfurt, in dem Robert Steinhäuser um sich geschossen hat, nicht auch so, denkt Paul einen kurzen Moment lang, vergisst das aber gleich wieder.
Es ist wirklich alles so hell und schön wie auf den Bildern in seinem ICE-Buch. Er kann es fast auswendig. Der ICE I, Baureihe 401, hat zwei Triebköpfe und maximal vierzehn Mittelwagen. Die
betriebliche Höchstgeschwindigkeit sind 280 Stundenkilometer, gebaut wurde das Modell von 1989 bis 1992, Indienststellung ab 1991. Paul mag das Wort Indienststellung. Spurweite 1435. Gewicht des leeren Zuges 795 Tonnen.
Paul hat keine Ahnung, wohin der Zug fährt. Er weiß nur, dass er hier eingesetzt wird, denn der Ostbahnhof, so steht es in seinem Buch, ist der östlichste ICE-Bahnhof Europas. Dahinter kommen nur noch Züge mit Lokomotiven. Langweilige alte Baureihen, die beim Fahren schnaufen.
Dieser ICE braucht 900 Meter und i Minute und 19 Sekunden, um von o auf 100 zu kommen, der Bremsweg bei 250 Stundenkilometern beträgt 4820 Meter, bei einer Schnellbremsung sind es noch 2300 Meter. Aber Paul weiß immer noch nicht, was Achsfolge Bo’Bo’ bedeutet.
Es ist seit Langem sein größter Traum, einmal mit einem ICE zu fahren, er hat
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