Walpurgistag
Karstädt, nun schon sehr wütend, sie sieht in ihrem Kopf einen Film ablaufen, wie ihre Hand über die Glasscheibe greift, der Angestellten die Häkelarbeit entreißt, die Häkelnadel aus der Masche zieht, drei Reihen aus Gemeinheit wieder aufräufelt und dann der Frau mit der Häkelnadel ins Herz sticht, obwohl die ja eigentlich gar kein Herz haben dürfte, so herzlos, wie sie hier rumhäkelt, und wie dabei ihre Augen hinter der Lesebrille, die eigentlich eine Häkelbrille ist, hervorquellen,
Viola also entnimmt ihrem Portemonnaie eine Zehnerkarte der Berliner Bäderbetriebe, die auf alle Schwimmhallen übertragbar ist – die Europaschwimmhalle meidet sie, weil sie ihr zu sehr nach gedoptem Wettkampfmaschinensport riecht -, eine Zehnerkarte also, auf der noch sechs Besuche offen sind, und jetzt, in dem Moment, da sie die Karte in den Schlitz der Sperre führt, ein Klicken den Kontakt anzeigt, sind es nur noch fünf. Die Kassenfrau sinkt zurück in ihre Häkelwelt. Sie hat gewonnen. Aber so ganz kann Viola Karstädt dann doch nicht aufgeben, und sie fragt mit fünfundneunzig Prozent Ärger in der Stimme, mit wem sie es denn zu tun habe, sie wolle sich nämlich beschweren über die Unfreundlichkeit am Eingang und überhaupt, wer seine Arbeitszeit mit Handarbeiten ausfülle, könne ja auch in die Volkshochschule wechseln. »Ich denke, Sie haben es eilig, nicht dass Ihr Kind zu lange wartet«, sagt die Frau seelenruhig und lässt noch gnädig fallen, dass sie Müller heiße, aber es gebe dreizehn davon bei den Berliner Bäderbetrieben. Außerdem könne Viola sich die Beschwerde sparen, sie halte sich nur an die Vorschriften. »Und übrigens sollten Sie Ihre Schuhe ausziehen«, sagt sie noch süffisant, und das Einzige, was Viola einfällt, um wieder runterzukommen, ist, ihre Schuhe anzulassen.
Vor dem Umkleidebereich wuselt eine Schulklasse herum, begleitet von den Ermahnungen einer Lehrerin mit nassen, strubbligen Haaren, die sich gerade in ihre Stiefel zwängt. Es ist nicht die von Jonas, und auch von den Kindern ist Viola keines bekannt. »Kevin, gib dem Cem mal bitte den rechten Schuh zurück. Kevin, ich rede mit dir, hallo.« Aber Kevin hat den Schuh schon in hohem Bogen über die Trennwand in den Damenumkleidebereich geworfen. Cem schreit: »Scheißdeutscher, ich mach dich fertig.« – »Hier wird gar keiner fertiggemacht«, ruft die Lehrerin barsch und schickt ein blondes Mädchen, das sie Anna-Lena nennt, los, den Schuh zu holen. Anna-Lena murrt, zieht aber ihre rosa Stiefel wieder aus und läuft auf Strümpfen in die Umkleidekabine. Hinter ihr betritt Viola Karstädt den Raum, um in die Halle zu gelangen, angestrengt bemüht, die Häkeltussi aus dem Kopf zu kriegen. Jetzt
entledigt sie sich doch ihrer Schuhe und Strümpfe, das ist so drin in ihr, schließlich hat sie eine Sozialisation in einem Unrechtsstaat hinter sich, in der eine Übertretung von Gesetzen schnell eine Haftstrafe ohne Bewährung nach sich ziehen konnte. Soll sie jetzt noch ein Geldstück in einen Schrank, zum Beispiel in 2064, stecken, um ihre Sachen loszuwerden? Oder soll sie mit Schuhen und Mantel in die überheizte Halle, wo sie ihren Sohn sicher nicht gleich finden wird? Sie stellt ihre Schuhe in den Schrank, dann die Tasche, und schließlich hängt sie auch noch die Jacke auf.
Anna-Lena wirft den Schuh von Cem über die Trennwand zurück, und der trifft auf der anderen Seite ein Mädchen, das sofort zu heulen anfängt, laut und durchdringend. »Anna-Lena, komm sofort her und sieh, was du angerichtet hast.« Anna-Lena zieht eine Grimasse und verlässt die Umkleidekabine.
Das Mädchen hat aufgehört zu bläken. Die Schulklasse entfernt sich. »Bleibt in Zweierreihen«, ruft die Lehrerin, »ich muss zählen.« Viola Karstädt denkt, ein Glück, dass ich nicht auf Lehramt studiert habe.
Ohne Badelatschen auf dem glitschigen Boden bewegt sich Viola Karstädt wie eine, die gerade den Mond betritt. Als sie den Umkleidebereich in Richtung Halle verlassen hat, liegt der von der Kamera überwachte Bereich völlig menschenleer da.
10.25 Uhr
Der ICE Johannes Gutenberg verlässt mitsamt Paul Bülow den Ostbahnhof
»Sag mal, spinnst du, Piepel? Steig sofort von dem Skateboard, sonst setzt’s was. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Hast du vergessen, wo du bist? Das ist ein Bahnhof. Ein BAAAHN-HOOOOF, kein Spielplatz. Und überhaupt: Schon mal auf die Uhr gesehen? Die Schule hat längst angefangen.« – »Wandertag«, flüstert Paul zu dem
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