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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Er wird sie mit Missachtung strafen, wie alle Leute, die ihn nicht interessierten, und sich isolieren, was ziemlich schwierig sein wird neben den anderen dicht an dicht bestatteten Urnen. Ein Konditormeister liegt schräg neben dem Urnenfeld, das wird ihn freuen. Blix war ein großer Kuchenesser. Es wird zwei, drei Nachbarinnen und Nachbarn geben, deren Erscheinung er was abgewinnen kann, und gerade die wird er ständig beleidigen, wie er es auch zu Lebzeiten
gemacht hat. Nicht auszudenken, wenn das hier so zugeht wie bei den Toten von Spoon River , Mord und Totschlag unter der Erde. Das Buch hat Blix sich mal bei mir ausgeborgt und nie wieder zurückgegeben.
    Alex winkt mir zu. Ich winke nicht zurück. Ich bin eins mit dem Baum neben mir, und niemand außer Alex scheint meine Gestalt noch zur Kenntnis zu nehmen.
    Liebig hat den Ghettoblaster auf ein kleines Mäuerchen gestellt, auf das jetzt zehn Punks ihren Pogo verlegt haben. Immer wieder verliert einer das Gleichgewicht und stürzt herunter, rappelt sich wieder auf und springt zurück, sofort wieder angerempelt von einem Konkurrenten.
    »I wanna be an anarchist. (Oh what a name.)«
    »Blix, du bist nicht umsonst gestorben«, schreit einer der Schwarzgekleideten und hebt die Faust. Spätestens jetzt würde Blix zu seinem Hohnlachen ansetzen, wenn er noch lebte. Det war Krebs, Atze, nich der Staat. Det is ja det Jemeine. Ick hätt jern noch ein paar von denen mitjenommen.
    Obwohl, Atze hat er nie gesagt. Atze ist was für Lichtenberger. Blix war Prenzlauer Berger.
    Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. Die Punks am Ende der Traube treten zur Seite und biegen sich vor Lachen. Sie geben den Blick frei auf Alex, der auf dem Erdhaufen hinter dem Grab liegt, offenbar über das Loch gestolpert, das eigentlich für Blix reserviert ist.
    Trottel, denke ich, und noch mal: Was für ein Trottel, fällt in ein Urnengrab. Alex rappelt sich wieder auf und klopft die Erde von seiner Hose. Das Lied verklingt mit einem tiefen, lang gezogenen »anarchy«.
    Liebig macht den Ghettoblaster aus. Der Friedhofsangestellte schiebt die Urne vorsichtig in das durch Alex etwas verbreiterte Loch. Was von Blix übrig blieb, verschwindet jetzt unter der Oberfläche. Für ihn wird der Satz »Ich wohne im Prenzlauer Berg« endlich wahr.

12.15 Uhr
Heike Trepte muss in die neunte Klasse, und Sugar passt nicht auf
    Dass ich immer mit Männern fremdgehen muss, die Instrumente spielen können. Als sei das der eigentliche Grund, mit ihnen ins Bett zu gehen. Hinterher werden sie immer sentimental und fangen an, traurige Rockballaden auf der elektrisch verstärkten Gitarre zu spielen oder Johann Sebastian Bach auf der Geige, manchmal noch nackt.
    Heike Trepte lehnt sich gegen die Eingangstür des Schulgebäudes, bis das schwere Holz nachgibt und sie durch die Öffnung schlüpfen kann, um mit schnellen Schritten auf die Treppe zuzugehen, nicht nach rechts und links sehend. Seit sie die Schule vor zwei Jahren das erste Mal betreten hat, hat sie das Gefühl, in eine dunkle, gefährliche Höhle hineinzulaufen, aus deren Nischen und Vertiefungen in jedem Moment etwas Unbekanntes hervorspringen könnte. Jeden Morgen, wenn sie in den Flur tritt, zieht sich ihr Magen leicht zusammen. Und das, obwohl es schlimmere Schulen in Berlin gibt.
    Es waren nie die mit den drei Akkorden auf der Gitarre, es waren jene, die schon mit sieben an der Hand der Mutter in die Musikschule oder zu vertrockneten Klavierlehrerinnen mit Perlenkette und Dutt in die viel zu große Wohnung mit dem Flügel geführt worden waren, in Erwartung, der Junge möge sich als legitimer Mozartnachfolger erweisen.
    Sie selbst hat als Kind ein bisschen auf dem Klavier dilettiert, aber weil es in ihrer Kindheit nicht so einfach Klaviere zu kaufen gab, man musste lange auf ein bestelltes warten, hat sie irgendwann die Geduld verloren und war bald nicht mehr zum Unterricht gegangen, auch weil ihr das Üben auf der auf die Holzplatte des Küchentisches gemalten Tastatur wie ein schlechtes Provisorium
vorkam. Und sie hasste Provisorien, der einzige Grund, warum sie aus der DDR wegwollte.
    Zuerst hatte sie einen Geiger, dann einen klassischen Gitarristen, im dritten Studienjahr einen E-Gitarristen. Nun hatte sie Gitarristen erst mal satt und entschied sich für einen Pauker mit starken Armen, dann lernte sie Micha kennen, der schon nach drei Wochen die Blockflöte aufgegeben hatte, und ausgerechnet den hat sie geheiratet. In der Schwangerschaft schaute

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