Walpurgistag
Sie hat ihn völlig verdrängt über ihrem kleinen privaten Problem. Sie hätte Micha ganz schöne Rechenrätsel aufgegeben, wenn sie in der Schule erschossen und ihre Schwangerschaft bei der Obduktion entdeckt worden wäre. Sie hatten gestern eine kleine Auseinandersetzung wegen der Ereignisse an der Erfurter Schule, und Micha steigerte sich so hinein, dass er am Ende fragte, warum es verdammt noch mal keinen Amokläufer unter den Lehrern gäbe, damit sich endlich mal etwas an diesem Scheißsystem ändere.
Es ist besser, sich nicht auf Diskussionen mit Micha einzulassen. Insgeheim fühlt er sich als Lehrer gescheitert, und das ist er ja auch. Jetzt hat er es einfacher, er holt seine Sperrzange aus der Tasche und behält das letzte Wort. Als Lehrer ist das schwieriger. Sie haben auch darüber gestritten, warum es ausgerechnet in Ostdeutschland passiert ist. Für Micha war das eindeutig. Sie war solche Diskussionen leid, die sie dazu zwangen, den Osten zu verteidigen, weil sie sich persönlich angegriffen fühlte.
Und jetzt schon wieder. Ich will nicht, denkt sie, ich will nicht mit Volkan über seine Machtphantasien reden. Als er neun war, ist sie mit ihm regelmäßig zum Zahnarzt gegangen, weil seine Milchzähne von den vielen zuckerhaltigen Getränken völlig zerfressen
waren. Sie hat seine Hand gehalten, als ein Zahn nach dem anderen gezogen worden ist. Ihn zum Arzt zu begleiten, waren seine Eltern nicht in der Lage und die Geschwister alle jünger. Der Vater arbeitete Schicht, und die Mutter konnte kein Deutsch. Jetzt ist der Vater seit bald drei Jahren arbeitslos.
»Wollt ihr über den Mord in der Schule reden?«, fragt Heike, und die Klasse schaut geschlossen nach unten. »Achmed?« Eine Weile ist Ruhe, und alle schauen auf Achmed, der schon siebzehn ist und immer noch hier sitzt, breit und bräsig, als wären der Stuhl und er zusammengewachsen. Als wollte er hier sein Leben lang nicht mehr weg. Ein lieber Kerl, eigentlich, kam, als sie ihn noch unterrichtete, immer pünktlich zur Schule und machte wenig Ärger.
»Ich fand den Lehrer cool«, sagt Achmed. »Ist doch toll. Stellt sich vor den Mörder und sagt: >Is gut, Alta<, ohne Angst. Krass. Echt krass.« Volkan schaut ihn an, als wäre er ein Verräter.
»Und, Hatice, was denkst du?« Hatice schreckt aus irgendeinem Traum auf. »Wir sind in Erfurt«, sagt Heike Trepte. »Keine Ahnung, wo ist das?«, sagt Hatice. »In Thüringen.« – »Schön da?«, fragt Hamud, der genauso picklig ist wie Robert Steinhäuser. »Im Moment sicher nicht, sonst ja.«
Man steckt nicht drin, denkt Heike. Die Antworten prasseln auf sie ein, während langsam ein Kloß aus dem Magen in den Hals hinaufsteigt. Er fühlt sich so groß wie ein Embryo an. »Ich find Steinhäuser toll, auch wenn er ein Deutscher ist.« Das ist Volkan. Heike kramt in ihrer Tasche nach den Papiertaschentüchern. Sie muss den Kloß aufhalten. »Ja, ey, fett und voll picklig, der hat sich bestimmt nicht gewaschen.« – »Was tut das denn jetzt zur Sache?« – »Ja, ey, und rasiert am Sack auch nicht.« Die Schüler wiehern, auch die Mädchen. »Heyheyhey, ihr wollt Respekt, dann respektiert auch die Toten«, versucht Heike das Durcheinander der Stimmen zu übertönen. Ihre Stimme klingt belegt, wahrscheinlich weil der Kloß den Rachen erreicht hat. »Auch die Mörder?«, fragt Volkan. Gute Frage. »Man weiß noch nicht viel über seine Beweggründe. Nur dass er die Schule nicht geschafft hatte und wütend war.« Heike denkt, da gäbe es hier einige in der Klasse. Aber vielen ist es gleichgültig,
ob sie einen Schulabschluss machen oder nicht. »Mann, der wollte eben auch mal in die Zeitung. Is doch toll.« – »Nur schade, dass er es nicht mehr sehen kann.« Das hat eines der Mädchen gesagt, aber wer, das kann Heike nicht mehr sehen, denn sie stürzt aus dem Raum und schafft es gerade noch, die Lehrertoilette aufzuschließen. Alles muss raus, denkt sie und bedient die Spülung, noch während ihr Kopf über dem Becken hängt.
Als sie die Tür wieder öffnet, steht Sugar vor ihr. Wie gelangweilt lehnt sie am Rahmen der gegenüberliegenden Schülertoilette, an die jemand mit Lippenstift »Fiken« geschrieben hat. »Sie kriegen ’n Baby, stimmt’s?«, sagt Sugar. »Meiner Schwester ist auch jeden Morgen schlecht, und die bekommt eins.« – »Aber deine Schwester ist erst sechzehn.« – »Ja, aber sie ist eine Ehefrau, und da muss sie auch Kinder bekommen.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich
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