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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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sie Musiker nur von Weitem an, meist in der Staatsoper, weil das in ihrem Bauch wachsende Wesen das Repertoire des Hauses mochte, wohingegen es die Punkkonzerte in den Kirchen verabscheute. Die Avancen eines Orchestertubaspielers, den sie, schon hochschwanger, in der Pause von Moses und Aron kennenlernte, lehnte sie ab. Dann gab sie sich der Ehe und dem Muttersein hin, und Micha genügte ihr eine Weile.
    Zwei Jahre nach Klaras Geburt aber lernte sie in der Straßenbahn einen Kontrabassisten kennen und verliebte sich Hals über Kopf in ihn, während sie beobachtete, wie andere Fahrgäste aus Versehen oder mit Absicht gegen den großen Kasten traten oder dumme Bemerkungen über den Platz machten, den der Kontrabass einnahm, und er bemüht war, ohne den anderen Fahrgästen in die Augen zu schauen, sein Instrument zu schützen. Es war ganz leicht, sich mit ihm zum Kaffee zu verabreden.
    Er hat ihr nie etwas vorgespielt. Sie sind auch nie über Petting hinausgekommen, denn er war unsterblich in eine Violinistin verliebt und glaubte, er würde seine Liebe verraten, wenn er mit einer Sonderschullehrerin ins Bett ginge.
    Er schrieb ihr dann ab und an Briefe, postlagernd. Zwei Tage nachdem er endlich die Stelle im Berliner Sinfonieorchester erhalten hatte, stellte er das Instrument in die Ecke und rührte es nicht mehr an.
    Nach diesem Erlebnis mit dem gescheiterten Kontrabassisten hat sie es mit zwei Arbeitslosen in Neukölln versucht, die nicht weit weg von ihrer Schule wohnten und zu denen sie abwechselnd in den Freistunden ging. Aber der eine hatte keine Dusche, und
der andere klaute ihr Geld aus dem Portemonnaie, und als schließlich einer vom anderen Wind bekam, Neukölln ist ein Dorf, und überhaupt die Gefahr bestand, irgendwelche Eltern könnten es spitzkriegen, hat sie mit beiden Schluss gemacht.
    Die Väter ihrer Schüler sind tabu.
    Vor ein paar Monaten aber hat sie die Oboe kennengelernt. Die Philharmonie ging seit einiger Zeit in Problembezirke und machte Musik mit benachteiligten Kindern. Das kam gut an und brachte Schlagzeilen in der überregionalen Presse. Bald hatten die Musiker auch vor dem Direktionszimmer ihrer Schule gestanden, deren Schüler doppelt benachteiligt waren, was doppelte Presse versprach. Die Oboe hat die anderen überragt. Naja, und nun hat sie das Problem. Ihr kleines Oboenproblem, das sich zu einem großen auswachsen kann. Ihr wird schon bei dem Gedanken an den Klang dieses Instrumentes schlecht.
    Heike hat inzwischen das Lehrerzimmer aufgeschlossen, einen Kaffee aus dem Automaten gezogen und die Termine der Woche durchgesehen. Es klingelt, und sie muss zum Unterricht. Vertretungsstunde in der 9b.
    Die kleine Jeanne läuft ihr im Gang entgegen. Sie trägt ein durchsichtiges Top, unter dem sich zwei leicht angeschwollene Brustwarzen abzeichnen. » Wo ist denn deine Jacke?«, fragt Heike Trepte, und Jeanne sagt: »Ich durfte heute ohne gehen, hat Papa erlaubt.« Ich muss dem Vater sagen, dass er seine elfjährige Tochter nicht so in die Schule lassen kann, und schon gar nicht im April. Jeannes Vater ist eigentlich ein leichter Fall, obwohl die Mutter über alle Berge ist und er das Mädchen allein erzieht. Einer der wenigen, die ihre Kinder regelmäßig in die Schule schicken. Jeanne hat auch immer ein Frühstücksbrot dabei, was fast einem Luxus gleichkommt. Sie hat viele Frauen kommen und gehen sehen, und nie war eine Mutter darunter. Neulich hat sie das Wort ficken ohne einen Rechtschreibfehler an den Rand des Heftes geschrieben, und vor ein paar Tagen hat sie Heike erzählt, sie wolle, wenn sie mit der Schule fertig sei, an der Stange tanzen, mit einem Glitzer-BH. Heike ist sich sicher, dass sie das schaffen
wird, falls sie es sich nicht doch noch mal anders überlegt. Jeanne ist dank ihrer Hyperaktivität längst am anderen Ende des Schulflurs angekommen, ohne weitere Argumente ihrer Lehrerin abzuwarten.
    Heike weiß nicht so recht, was sie mit der Neunten anfangen soll. Eigentlich hätte sie jetzt eine Freistunde, aber vor einer halben Stunde ist sie von der stellvertretenden Direktorin angerufen worden. Eine Kollegin ist nicht zur Arbeit erschienen, und die Vertretungslehrerin hat sich vor einer Stunde wegen eines Migräneanfalls nach Hause schicken lassen. Sie muss sehen, womit sie die Schüler in den nächsten fünfundvierzig Minuten beschäftigt. »Hauptsache, Ruhe im Haus«, sagt ihr Direktor in solchen Situationen immer. Heike kennt die Klasse gut, es war bis zur sechsten Klasse

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