Walpurgistag
ihre, dann hat sie mit einer neuen Klasse wieder von vorn angefangen.
Als sie die Tür zum Raum 105 öffnet, sieht sie als Erstes, wie Hatice hinten auf der Bank mit ihren Absatzschuhen in einem imaginären Rhythmus über die Tischplatte stampft. »Sugar«, schreit Dennis neben ihr, »hör doch mal auf, Frau Trepte ist da.« – »Frau Trepte, Frau Trepte, aus Treptow, im Schulklo, mit Arschpo«, rapt Hatice und hält sich ihr Handy wie ein Mikrofon vor den Mund. »Mitte«, sagte Heike Trepte, »ich bin aus Mitte, und jetzt kommst du bitte da runter, Sugar.« – »Für dich immer noch Hatice«, sagt Sugar und springt von der Bank. » Woher kommt eigentlich der Name? Klingt nicht gerade Türkisch.« – »Ist, weil wir gerade Englisch haben, da heißen wir eben anders.«
Heike weiß, dass das nur ein Vorwand ist. Sie hat Hatice mal mit zwei anderen, ihr unbekannten Mädchen gesehen, sie boxten sich durch die Hermannstraße, kein Passant unter zwanzig war vor ihren Fäusten sicher, und Gegenschläge wehrten sie geschickt ab. Es hatte etwas Tänzerisches.
Heike wäre die Letzte, die deswegen die Eltern zu sich bestellte. Sie ist froh, wenn sich die Mädchen ihre Freiräume schaffen und sie so weit ausdehnen, wie es geht. Manchmal überkommt Heike ein Anflug von Selbstmitleid, und sie fragt sich, warum ausgerechnet sie sich mit so mittelalterlichen Problemen herumschlagen
muss. Sie ist immer der Meinung gewesen, alle Menschen seien gleich. Bei denen hier ist es das bestgehütete Geheimnis der Familie, dass ihr Kind in eine Förderschule geht.
» Wo ist denn Marlene?«, fragt Heike Trepte, nachdem sie in die Runde geschaut hat. »Die muss heute auf die Kampfhunde aufpassen, weil die Mutter einkaufen ist«, sagt Hatice. »Wie? Ist das ein Grund, nicht zur Schule zu kommen?« – »Ja, ist doch immer so, wenn es Stütze gibt.« – »Was hat das mit der Stütze zu tun?« – »Na, dann hat die Mutter wieder Geld und kann shoppen gehen.« – »Marlenes Mutter kann doch die Kampfhunde nicht einfach unten vor dem Supermarkt anbinden. Die sind doch gefährlich«, wirft Volkan ein. »Dann muss sie die Kampfhunde eben so lange allein zu Hause lassen.« – »Ja, aber die bellen ganz laut, wenn die alleine sind, und deswegen wollte der Vermieter die Familie schon raushaben, also muss Marlene eben bei den Kampfhunden bleiben, bis ihre Mutter wiederkommt. Oder würden Sie es besser finden, wenn die keine Wohnung mehr haben?« Hatice schaut Heike herausfordernd an. »Marlene kann die Hunde gar nicht leiden. Sie hasst sie. Einer hat ihr neulich in die Hand gebissen«, sagt Volkan. »Ihr wisst genau, dass die Schule wichtiger ist als Haustiere.« – »Nicht für Marlenes Mutter.«
Manchmal würde Heike die Kinder gerne von der Polizei zur Schule bringen lassen. Am Ende gehen achtzig Prozent von ihnen ohne Lehrstelle ab, egal, wie gut ihr Zeugnis ist, und all ihr Ärger auf die Eltern relativiert sich wieder. Aber Mütter, die ihren Kampfhunden mehr Zuwendung geben als ihren Kindern, daran will sie sich nicht gewöhnen. Sie bricht die Diskussion um Marlenes Fehltag ab und macht eine Notiz im Klassenbuch. Da soll sich das Jugendamt drum kümmern.
»Gut, wie ihr wisst, ist eure Englischlehrerin krank, und wir haben fünfundvierzig Minuten. Mathe oder Deutsch?« Die Schüler schweigen. Hatice ist unter der Bank, fummelt da was. »Hatice, komm mal wieder hoch.« – »Keine Lust.« – »Lass mich dein Gesicht sehen und nicht deinen Rücken.« – »Mein Gesicht geht Sie nichts an.« – »Sugar müsste eigentlich sowieso verschleiert
kommen. So hässlich, wie die ist.« Volkan lacht so ein Stimmbruchlachen und schaut Heike gleichzeitig misstrauisch aus den Augenwinkeln an. Hatice streckt ihm die Zunge heraus. »Haben Sie keine Angst vor uns?«, fragt er jetzt mit sehr tiefer Stimme. Heike ist einen kurzen Moment lang erstaunt. » Warum soll ich Angst vor dir haben? Ich kannte dich doch schon, da konntest du deine Schultüte noch nicht halten.« – »Und heute kann er prima mit Messern umgehen.« Dennis grinst. »Ja, hat mir meine Lehrerin, Frau Trepte, beigebracht. Damals, als wir immer mit ihr gefrühstückt haben, damit wir schneiden lernen.« Alle lachen über Volkan, der nur in der Schule was zu lachen hat. Zu Hause regiert ein Patriarch die Familie, der gern mal mit dem Gürtel zuhaut. » Volkan kann auch mit Pistolen schießen.« – »Ja, Pumpgun, abgeschnitten.«
Jetzt dämmert es Heike. Erfurt, na klar, der Amoklauf.
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