Walpurgistag
damals in einer gynäkologischen Praxis aufgehalten worden war. Bei der Abtreibung waren Komplikationen aufgetreten, und sie hatte nicht mehr laufen können. Irgendwann war eine fremde
Frau gekommen, hatte ihn an die Hand und mit zu sich nach Hause genommen, eine Wohnung, an die er keine Erinnerung mehr hat, nur dass nach unendlich langer Zeit seine Mutter dort in der Tür stand.
Sie sind danach nie wieder nach Westberlin gefahren.
Was aber hat Micha Trepte bloß so irritiert, dass er hier an der Kreuzung wie ein Ölgötze steht und mit Ingrimm feststellt, dass es heutzutage nur noch zwanzig Menschen sind, die mit einem Schwung pro Ampelphase die Kreuzung in Richtung Gedächtniskirche überqueren, anstatt seine Arbeit fortzusetzen?
Vor mehr als einer Stunde ist Micha Trepte das Treppenhaus eines sich mit roten Teppichen und Wandpaneelen aus unechtem Marmor hochherrschaftlich gebenden Altbaus auf dem Kurfürstendamm bis in die zweite Etage hinaufgeeilt, um wegen nicht beglichener Rechnungen die Unterbrechung der Gasversorgung einer therapeutischen Praxis vorzunehmen. Dort angekommen, hat er einen aufgebrachten Mann, hochrot im Gesicht, mit wirrem Haar und fliegenden Mantelschößen, aus der Praxis die Treppe herunterstürzen gesehen, ehe eine zarte, aber sehr entschieden wirkende Frau Ende vierzig ihm hinterherrief: »Nun bleiben Sie doch, Herr Böttcher, Ihren Fall haben wir noch gar nicht behandelt.« Und als der Mann nicht stehen blieb, brüllte: »Ich bekomme noch 110 Euro von Ihnen.« – »Guten Tag«, hat Micha Trepte gesagt, »bei mir sind es 587,60 Euro, und zwar bar auf die Hand, sonst bin ich gezwungen, den Gasanschluss zu sperren. Ich hatte mich für heute telefonisch angekündigt.« Die Frau strich sich, für Micha Treptes Geschmack etwas zu theatralisch, mit der linken Hand über das fest am Kopf liegende Haar, wobei sich etliche Strähnen aus ihrem Haarknoten lösten, und flüsterte wütend: » Wie indiskret, mir das im Treppenhaus zu sagen, ich werde mich bei der GASAG beschweren.« Und gleich darauf: »Folgen Sie mir.«
Micha Trepte kannte seine Pappenheimer, vor allem in solchen Straßen. Eigentlich reicht das Budget nicht für den Standort, aber es sieht so wichtig aus auf der Visitenkarte; also bringt man
gerade noch die Miete auf und stellt als Erstes die Zahlung der Energierechnungen ein.
Im Flur der Praxis sagte sie ihm, für diese Gegend recht unumwunden, wie er fand, dass sie das Geld nicht habe, er habe ja eben selbst gesehen, welche Tricks die Leute anwendeten, um nicht zahlen zu müssen, und dass sie sich nur unter einer Bedingung sofort und klaglos vom Netz abklemmen lasse. Sie gebe ihm dazu noch ein sattes Trinkgeld, wenn er bei der gerade laufenden Familienaufstellung den Vater der Frau vertrete. Was denn das für ein Psychozeug sei, hat Trepte gefragt, denn er konnte mit Therapeuten nichts anfangen. Doch hatte er keine Lust, lange herumzudiskutieren. Das kannte er schon zur Genüge. Man versucht, das Problem vor Ort auszusitzen, indem man nicht weggeht, ehe das Problem gelöst ist, oder der Schuldner tut es, indem er die Tür nicht aufmacht oder behauptet, keinen Zähler zu haben, und man muss dreimal kommen, zuletzt mit der Polizei.
Micha Trepte kann hier und jetzt an der Kreuzung unter der Verkehrskanzel nicht mehr sagen, ob er zu bequem oder nur neugierig gewesen war, als er fragte, was das denn überhaupt sei, eine Familienaufstellung. Er sei grundsätzlich ein Freund der Abwechslung, sonst ließe sich dieser Beruf nicht durchhalten, aber etwas deutlicher müsse sie schon werden, wenn er fünfzehn Minuten seiner Arbeitszeit opfern solle. Man müsse bei seiner Tätigkeit gute Schuhe und eine gesunde Psyche haben, vor allem, wenn ihm manchmal die gelangweilten, emotional ausgehungerten Frauen beim Ablesen auf die Nerven gingen, die ihm hinter dem Elektrokasten im Negligé auflauerten. Trepte fragte sich, warum er der Therapeutin solch übertriebenen Schwachsinn erzählte. Vielleicht, weil sie ihn so aufmerksam beobachtete.
Mit der Methode der Familienaufstellung würde sie die krank machende Familienstruktur ihrer Klienten in Harmonie auflösen können und sie mit ihrer Familienseele versöhnen, sagte sie, nun mit einem weichen Timbre. Harmonie, brummte Trepte, er liebe Harmonie.
Die Klientin erkläre in zwei, drei Sätzen ihr persönliches Problem, die Therapeutin frage nach Schicksalsschlägen in der Familie oder Konflikten, die unter der Oberfläche blieben. Manche hätten
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