Walpurgistag
seiner Mutter mehrmals hier gewesen. Sie fuhren von Braunschweig aus stundenlang in Interzonenzügen und mussten insgesamt viermal über die Grenze, nur damit seine Mutter auf dem Ku’damm zweimal hin- und herlaufen konnte, einmal in den alten und einmal in den neuen Schuhen. Sie gingen aber immer nur bis zur Höhe Olivaer Platz, dann drehten sie um, denn dahinter, behauptete seine Mutter, komme der Teil des Ku’damms, auf dem die Geschäfte nicht sehr zahlreich seien und somit nicht von Interesse. Seit seiner ersten Ampelablesetour weiß er, dass seine Mutter recht gehabt hat.
Wenn sie die Parade der Platanen abgeschritten hatten, gingen sie ins Kranzler und warteten so lange geduldig in der Schlange, bis sie einen Platz am Geländer der Rotunde in der zweiten Etage bekamen, von wo aus man die Kreuzung am Ku’dammeck beobachten konnte. Denn seine Mutter wusste, dass sich Micha zwischen den vielen alten Frauen immer furchtbar langweilte. Sie aber brauchte diesen Kaffee. Sie nannte das: den Geruch der weiten Welt einatmen. Und wirklich: Hier roch es anders als in Braunschweig.
Von oben ließ sich in der blätterlosen Jahreszeit die ganze Kreuzung überblicken. Micha zählte die Leute, die in einem Schwung über die Ampel gingen. Es waren auf jeder Seite um die fünfzig. Immer und immer wieder kamen so viele zusammen, ehe die Ampel auf Grün schaltete. In der Verkehrskanzel saß jedes Mal derselbe dicke Polizist mit seinem blütenweißen Käppi.
Zu seinen Füßen befand sich auch damals schon ein Zeitungskiosk, der von bunten Blättern überzuquellen schien und an dem das Ku’dammritual der Kleinfamilie Trepte beendet wurde. Die Mutter kaufte sich eine Brigitte und für ihn ein Micky-Maus- Heft.
Seine Mutter ist seit zwei Jahren tot. Wo hätte er sie vorhin in dieser Praxis hingestellt, wenn er der Klient gewesen wäre? Nahe bei sich, ihm zugewandt oder eher in die Ferne schauend? Und wo hätte sein Vater gestanden? In derselben Ecke wie er, als Stellvertreter eines anderen?
Die Platanen recken ihr zartes Grün in den Ku’dammhimmel. Er würde jetzt gerne in der Kanzel oben sitzen und die Leute beobachten. Wie hat so ein Polizist das ausgehalten? All die schönen Mädchen, die zu seinen Füßen vorbeigingen und die er nicht berühren durfte. Er konnte ihnen das grüne Licht wegnehmen, wenn er wollte. Und dann mussten sie auf ihren Pumps versuchen zu rennen, um den rettenden Gehweg zu erreichen, ehe die Autos anfuhren. Manche machten das mit Anmut, andere knickten um oder verloren ihre Absätze, die zwischen den Rillen des Pflasters hängen blieben, das damals noch auf der Straße lag. Heute tragen
nur noch die Osteuropäerinnen Pumps. Und das mit Grandezza, wie Micha Trepte findet. Von denen gibt es nicht wenige auf dem Ku’damm.
Die Straße hat im tiefen Osten immer noch einen guten Namen.
Der Bus der Linie 129 streift die Zweige der Platanen. Er ist bis unters Dach mit der Reklame einer Boulevardzeitung beklebt: »Lesen, was geschieht.« Die Leute sitzen darin wie in einer Höhle ohne Fenster. Die Zeitung verbietet ihnen, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen.
In ein paar Jahren würde diese Werbebotschaft mitsamt Bus irgendwo in Osteuropa fahren und völlig abgelöst sein von den Dingen, die dort als Ware angepriesen wurden. Es ist kein halbes Jahr her, dass Micha Trepte auf Dienstreise in Timişoara war. Er sollte seine rumänischen Kollegen im Zuge der Konzernerweiterung in die Geheimnisse der Computerabrechnung einführen. Dort gab es eine Straßenbahn, die für ein Kräuterbonbon warb, dessen Produktion in Deutschland seit Jahren eingestellt war, ja, mehr noch, Markenname und Firma waren längst aus allen Registern gelöscht. Die Botschaft wirkte wie ein auf den Unterarm tätowierter Liebesschwur, dessen Adressatin längst untreu oder tot war. Mit Erstaunen hatte er damals auf dem Marktplatz gestanden und minutenlang der Straßenbahn hinterhergestarrt, den Geschmack des Bonbons auf der Zunge. Und den Ort, an dem er es gegessen hatte, vor seinem inneren Auge. Es war genau hier an der Kreuzung, wo er, ein kleiner Junge von sechs Jahren, alleine stand und hoffte, seine Mutter werde das Versprechen einlösen und in einer Stunde wiederkommen. Aber die Mutter kam nicht wieder, und die Uhr an der Verkehrskanzel lief unerbittlich weiter und weiter, bis es dunkel wurde und der Polizist seinen Dienst beendete und die Leiter ächzend herunterkletterte. Erst Jahre später erfuhr Trepte, dass seine Mutter
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