Walpurgistag
heirate auch. Nächste Woche in Schweden. Meinen Cousin.«
Heike hat das Gefühl, sie müsste dem Mädchen über den Kopf streichen. Aber sie tut es nicht. Beim ersten Mal hat sie es noch versucht, so eine Kinderhochzeit zu verhindern. Mit dem Ergebnis, dass die ganze Familie von der Bildfläche verschwand. Heike hat von ihnen nie wieder etwas gehört.
» Willst du das denn auch?«, fragt Heike und weiß, dass die Frage blöd ist. Die meisten türkischen und arabischen Mädchen nehmen es hin wie eine Naturkatastrophe und hoffen, dass sich die Schäden in Grenzen halten. Hatice zuckt mit den Schultern. »Ich bin doch nur kurz weg. Drei Tage. Dann komme ich ganz bestimmt wieder. Ich will nicht zu Hause rumsitzen.« – »Und was wird dann aus Sugar?«, fragt Heike. Wider Erwarten versteht Hatice die Frage sofort. »Sugar bleibt, fünf Stunden am Tag. Oder zwölf, manchmal«, sagt Hatice und grinst. Sie gehen zusammen zurück in die Klasse. »Ich bin übrigens nicht schwanger«, sagt Heike, bevor sie die Tür zur Klasse öffnet, hinter der es so laut ist wie auf dem Schulhof während der großen Pause, »das Fleisch war wohl nicht mehr gut.« Hatice schaut sie an, als wollte sie sagen: Das kannst du deiner Großmutter erzählen.
12.37 Uhr
Micha Trepte atmet am Ku’dammeck durch
Neun Kilometer Luftlinie von seiner neuen Ehefrau entfernt, ist Micha Trepte außer Atem. Bei jedem Schritt klappert das Werkzeug in seiner Umhängetasche. Bis zur Ampel an der Joachimsthaler muss er es schaffen, ohne stehen zu bleiben, das hat er sich an der Kreuzung Fasanenstraße vorgenommen. Er spürt, wie der Schweiß ihm an den Schläfen herab in seinen Bart rinnt. Leute mit schweren Einkaufstüten beobachten ihn aus den Augenwinkeln. Wovor rennt der weg? Was führt der im Schilde?
Wie konnte er sich nur hinreißen lassen? Wenigstens hat er es noch geschafft, das Gas in der Praxis abzuklemmen. Es ist ihm eine Genugtuung, dass die zu Standbildern erstarrten Menschenknäuel die nächsten zwei Wochen frieren werden, bis die Frühlingswärme auch in den Häusern des Kurfürstendamms ankommt.
Endlich steht er keuchend an der Kreuzung mit der Verkehrskanzel, stützt sich mit dem linken Arm an der Ampel ab, hält sich mit dem rechten die Seite, wo es unter den Rippen bei jedem Einatmen sticht, und liest auf dem riesigen Display am Kaufhaus: »Herzlich willkommen in der Berliner City West. Heute ist Dienstag, der 30. April. Es ist 12.38 Uhr. Sie befinden sich am Kurfürstendamm, Kreuzung Joachimsthaler Straße, am Ku’dammeck. Tagesdurchschnittlich generiert man, wie Sie gerade selbst sehen, dreihunderttausend eindrucksvolle Kontakte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Zeit.« Dreihunderttausend eindrucksvolle Kontakte. Mir reicht dieser eine den Rest des Tages, murmelt Micha Trepte vor sich hin.
Er schaut unwillkürlich auf das kleine Türchen unten am Sockel der Ampel, als müsste er sogleich nach seinem Vierkant greifen,
die Klappe öffnen und den Stromverbrauch des vergangenen Jahres ablesen. Er hat diese Arbeit immer gehasst, besonders die auf dem Ku’damm, und nicht nur, weil es hier auf den dreieinhalb Kilometern unzählige Ampeln gibt. Jeder fühlte sich bemüßigt, ihn zu fragen, was er da mache, manche betätigten die Notruftaste ihrer Handys. Dass jede Ampel einen eigenen Zähler hat, weiß eben niemand, noch nicht einmal die Polizei, und er muss sich als Mitarbeiter des Energieversorgers ausweisen. Obwohl es immer noch besser ist, Ampeln abzulesen als den Stromverbrauch der roten Signalleuchten auf den Kirchtürmen der Stadt. Es war manchmal lebensgefährlich, wenn er mit dem Küster den Zähler suchte, der sich meistens im Glockenturm verbarg, zu dem man nur über morsche Stiegen ohne Geländer oder wacklige Leitern gelangte, falls er überhaupt zu finden war.
Einmal hat Micha Trepte den Verbrauch der Verkehrskanzel ablesen müssen. Er war minimal, die Kanzel, von der aus früher ein Polizist den Verkehr geregelt hat, wird seit dem Aufkommen der Computer nicht mehr genutzt, nur am Fuß betreibt jemand einen kleinen Zeitungskiosk.
Als Kind hat er immer in der Kanzel wohnen wollen. Er malte sich aus, wie er von oben den Verkehr dirigieren und nachts zusammengerollt unter dem Schalttisch schlafen würde. Bei gutem Wetter könnte man einen Liegestuhl auf das rückwärtige Dach stellen, das den darunterliegenden U-Bahneingang vor Regen, Wind und zu viel Sonne schützte. Als Kind war er mit
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