Walter Ulbricht (German Edition)
Interventionen sprachen sich natürlich herum.
Es war logisch, dass über kurz oder lang Ulbricht auch bei uns im VEG auftauchen würde. Er entschied stets kurzfristig, wohin er sich wandte, um keinen Rummel auszulösen. Hätte er zum Beispiel erfahren, dass die Häuptlinge in der Bezirkshauptstadt Rostock veranlasst hatten, dass zwischen Born und Ahrenshoop extra ein Hügel für ihn aufgeschüttet wurde, damit er – im Bedarfsfall – von dort einen Blick auf die Landschaft werfen könne, wäre er gewiss aus der Haut gefahren. Auf dem Ostzingst wurde aus gleichem Grund ein Fahrweg über den Deich bis hin zum Wattenmeer angelegt, damit er so viel wie möglich von dieser schönen Landschaft sehen konnte. Der Volksmund hatte für beides schnell einen Namen: »Ulbricht-Hügel« und »Ulbrichtstraße«. Ulbricht erfuhr auch von der Straße nichts. Gottlob, da hätte es gerumst.
Ich war damals Chefingenieur im VEG und gehörte zum Leitungsgremium des Betriebes. Eines Tages geschah es dann doch. Wir erhielten Nachricht, dass Walter und Lotte Ulbricht zu Besuch kämen. Wir konnten gerade noch organisieren, dass sich vor der Zentralwerkstatt und dem Verwaltungsgebäude des VEG (heute befindet sich darin das Hotel »Vier Jahreszeiten« und ein Supermarkt) einige Mitarbeiter versammelten, um Spalier zu bilden. Plötzlich rollte ein einzelner schwarzer Tatra auf den Hof. Keine Polizei, keine Eskorte oder Begleitfahrzeug. Ulbrichts stiegen aus, schüttelten Hände, redeten, und der Direktor, um entsprechende Auskunft und Führung gebeten, zeigte ihm unser Einzugsgebiet. Zunächst ging es zur Ostspitze der Halbinsel, dem Pramort. Die »Ulbrichtstraße« wurde links liegengelassen. Der Direktor erklärte. Ostwärts schlossen sich das Wattenmeer sowie die Inseln Werder und Bock an. Der Blick ging frei bis zu den Inseln Hiddensee und Rügen. Unsere Gäste waren von der Schönheit überwältigt.
Der Direktor des VEG erläuterte unsere Vorstellungen. Wir wollten ungenutztes, brachliegendes Territorium wirtschaftlich erschließen, um noch mehr Nahrungsmittel zu produzieren. Ulbrichts hörten sehr konzentriert zu, und wir meinten, sie würden unseren Überlegungen folgen. Doch Walter Ulbricht schüttelte den Kopf. Es sei zutreffend, dass in der Welt noch großer Hunger herrsche, der überwunden werden müsse, doch wir sollten diese schöne, einmalige Natur nicht zerstören, sondern stattdessen dafür sorgen, dass weltweit der Kapitalismus, der mit Profitstreben und Spekulation für den Hunger in weiten Teilen der Welt verantwortlich sei, überwunden werde. Es scheine ihm sinnvoller, wenn wir auch die Lebensmittelproduktion intensivierten, statt extensiv zu arbeiten und Landschaft zu vernichten.
Dann fuhren wir zum Großtrockenwerk in der Sundischen Wiese und besichtigten es bei laufender Produktion. Als Chefingenieur erläuterte ich den Bau, die aktuelle Rekonstruktion, mit der wir einerseits die Produktion steigern und andererseits die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern wollten. Dafür fand der Staatsratsvorsitzende anerkennde Worte.
Anschließend gab es einen Imbiss mit Smalltalk mit den hinzugekommenen Gästen aus dem Bezirk. Leider hatte ich mich mit meinem Vorschlag nicht durchsetzen können, auch Werktätige hinzuzubitten. Harry Tisch, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, hatte gemeint, Ulbrichts seien im Urlaub, die wollten ihre Ruhe, daher sollte alles in kleiner Runde bleiben. Doch Tisch hatte seine Rechnung ohne Walter Ulbricht gemacht. Denn kaum saß er auf der Bank und hatte die umsitzenden Schlipsträger gemustert, fragte er: »Warum sind denn keine Arbeiter hier?«
Tisch fragt den Direktor: »Warum sind denn keine Arbeiter hier?«, als wenn er sich die Antwort nicht hätte selber geben können.
Der Betriebsleiter wandte sich mit der gleichen Frage an mich.
Ich ging ins Trockenwerk hinüber und holte sechs Frauen und Männer, die entbehrlich waren. Sie wussten nicht, was sie erwartete.
Ulbrichts tranken Saft, was die Offiziellen mindestens so störte wie die Tatsache, dass sie als Gesprächspartner abgemeldet waren. Sie langten erst nach dem Wodka, als Ulbrichts davonfuhren und die Arbeiter wieder an ihre Maschinen zurückgekehrt waren. Den Kollegen aus dem Trockenwerk hatte Ulbricht einen Kasten Bier spendiert. »Aber erst nach Feierabend trinken«, hatte er lachend gerufen, als er sich verabschiedete und ins Auto stieg. »Denkt an den Hunger in der Welt und an die Intensivierung der Produktion! Da muss
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