Walter Ulbricht (German Edition)
Mähdrescherbesatzungen sich tapfer mühten, waren die Einbußen groß. Mit Berlin entschieden wir, das Erntefest abzusagen. An die Bodenreform und den schweren Anfang wollten wir dennoch erinnern. Der Karl-Marx-Platz in Neubrandenburg war bis auf den letzten Meter gefüllt, so viele wollten Ulbricht sehen und sprechen hören.
Während er in einer Fernsehrunde mit LPG-Vorsitzenden saß, sollte ich mit Lotte Ulbricht hinauf zur Aussichtsplattform des Hauses der Kultur und Bildung fahren, um ihr die Stadt von oben zu zeigen. Doch o Schreck: Der Fahrstuhl fuhr nicht. Was für eine Blamage. Der Techniker war hilflos, drückte die Knöpfe, und auch mir wurde unwohl. Da bückte sich Lotte Ulbricht und polkte etwas aus der Führungsnut der Tür. Triumphierend hielt sie uns den Kronkorken einer Bierflasche vor die Nase.
Offenkundig hatte doch jemand das Erntefest gefeiert.
Die Fahrstuhltür schloss und es ging aufwärts ...
11 Neues Deutschland vom 29. November 1963
Friedensstiftung
Wiktor G. Kulikow
Die DDR war souverän, aber nicht auf militärisch-politischem Gebiet
Wiktor G. Kulikow, Jahrgang 1921, Bauernsohn, Soldat seit 1939, kommandierte Panzereinheiten an der Belorussischen und an der Ostsee-Front. Besuch der Frunse-Militärakademie und der Militärakademie des Generalstabes in den 50er Jahren. Befehlshaber der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) von 1969 bis 1971. Danach bis 1977 Chef des Generalstabes der Sowjetischen Streitkräfte. Von 1977 bis 1989 Oberkommandierender der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages. Am 14. Januar 1977 wurde ihm der Rang eines Marschalls der Sowjetunion verliehen. Abgeordneter der russischen Duma seit 1989. Der »Held der Sowjetunion« Kulikow verstarb kurz vor Drucklegung des Buches am 27. Mai 2013 in Moskau.
G enosse Marschall, Sie waren zwischen 1969 und 1971 Chef der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, also in jener Zeit, als Walter Ulbricht die Funktion als Erster Sekretär des ZK verlor. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Meine Erinnerungen an »Genossen Walter«, wie wir ihn in der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland vertrauensvoll nannten, sind nicht umfangreich und auch widersprüchlich. Dafür möchte ich zwei Begebenheiten nennen: Nach einem Manöver, auf dem wir gefechtsnah probten, welche militärische Macht notwendig war, um Angriffe der NATO zurückzuschlagen, sagte er: »Genosse Marschall, tun Sie alles, dass ein solcher Krieg nicht stattfindet! Unsere Waffen sollen dem Frieden dienen und nichts und niemandem sonst.« Diese Friedenssehnsucht eines gestandenen deutschen Kommunisten hat mich stark beeindruckt.
Unvergessen ist mir die zweite Begebenheit ganz anderer Art: Im Frühjahr 1971 fand aus Anlass des 15-jährigen Bestehens der Nationalen Volksarmee der DDR wieder ein Manöver statt. Nach dem Vorbeimarsch der Truppen in Magdeburg wurde ausgewertet. Den Bericht erstattete DDR-Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Hoffmann. Danach haben wir uns zu dritt – unser Botschafter Pjotr Abrassimow, Erich Honecker und ich – von den übrigen Anwesenden entfernt und unter sechs Augen über die Lage in der DDR gesprochen. Dabei ging es im Wesentlichen um »Genossen Walter«. Er habe viel für Deutschland getan: im Nationalkomitee »Freies Deutschland« und beim Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Landes. Aber es falle ihm immer schwerer, die politische Realität wahrzunehmen, so Honecker. Möglicherweise läge das am Alter – immerhin war Ulbricht damals fast achtzig Jahre alt. Der Bruch zwischen dem Ersten und dem Zweiten Sekretär der Partei 11 war nicht zu übersehen. Als sowjetische Militärs hat uns das sehr betroffen gemacht, denn wir hatten nicht vergessen, dass er damals an unserer Seite gegen die Faschisten kämpfte. Wir waren gewissermaßen Waffenbrüder. Wie die Sache ausgegangen ist, wissen Sie.
Mit Ulbrichts Namen ist der sogenannte Mauerbau verbunden. Wie haben Sie die »Mauer« gesehen?
Als die Berliner Mauer gebaut wurde, war ich als Leiter einer Gruppe sowjetischer Militärexperten in der Republik Ghana tätig, um beim Aufbau von Streitkräften technische Hilfe zu leisten. Als ich dann später, 1977, Oberkommandierender der Streitkräfte der Staaten des Warschauer Vertrages wurde, habe ich die heute so geschmähte Berliner Mauer schätzengelernt. Durch den Beitritt der BRD zur NATO hätte aus jedem Grenzzwischenfall zwischen den beiden deutschen Staaten ein atomarer Weltkrieg werden
Weitere Kostenlose Bücher